Über Armut zu sprechen, diskutieren und forschen kann aus zwei Gründen kaum wertneutral geschehen. So ist zum einen in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft umstritten, was überhaupt unter Armut zu verstehen ist und zu anderen kann ihr Vorhandensein kaum konstatiert werden, ohne damit nicht auch eine Kritik an der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Insofern ist die theoretische Beschäftigung mit Armut immer auch ein Politikum.1 Umso wichtiger scheint die Begründung der Auswahl des Armutsbegriffes im Kontext dieses Projekts, welche sich in drei Schritte gliedern lässt: Nach einer kurzen Darlegung eines monetären Armutsverständnisses sowie der Argumente für eine Erweiterung dessen, wird der Capability Approach (CA) des Ökonomen und Nobelpreisträgers Amartya Sen dargelegt, um anschließend als Synthese den Armutsbegriff dieses Berichts und die sich daraus ergebenden Dimensionen der Analyse darzustellen.
1 Heitzmann, Karin/Angel, Stefan 2021: Monetäre Armut. In: Schweiger, Gottfried/ Sedmak, Clemens (Hg.): Handbuch Philosophie und Armut. Stuttgart: J. B. Metzler 2021, S. 13- 19, S. 13.
Den Kern der Definition von Armut stellt die monetäre Dimension dar: Über welche Geldsumme verfügt ein Mensch und wie lässt sich das Leben mit dieser gestalten? Jedoch schließen sich hieran zahlreiche Fragen an, sodass der Begriff der Armut selbst in seiner rein materiellen Dimension tatsächlich komplexer ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wie wird das Verfügen über eine Geldsumme definiert? Was wird hier eingerechnet? Wie gestaltet sich das Leben mit Armut? Was versteht man unter Grundbedürfnissen? Welche Bedürfnisse müssen im 21. Jahrhundert gedeckt werden? Und sind unterschiedslos alle Menschen gemeint oder muss nicht vielmehr nach bestimmten Charakteristika und Bedingungen differenziert werden?
Um mit der letzten Frage zu beginnen: In der Armutsforschung weltweit hat sich die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut durchgesetzt. Jemand ist dann von absoluter Armut betroffen, wenn Grundbedürfnisse eines Menschen wie Wasser, Nahrung, Kleidung und Obdach nicht gedeckt werden, er also in seiner Existenz bedroht ist. Die vor allem von der UNO herausgegebenen Statistiken verwenden hierbei die Armutsgrenze von 2,15 US-Dollar pro Tag pro Person;2 dabei sind vor allem Personen im Globalen Süden von absoluter Armut betroffen. Der relative Begriff von Armut hingegen differenziert nach Zeit und Ort: Relativ ist diese Definition, insofern der Lebensstandard eines Menschen ins Verhältnis zum durchschnittlichen Lebensstandard in einem bestimmten Land gesetzt wird. Ist dieser unterdurchschnittlich, gilt die Person als arm. Dabei muss auch hier präzisiert werden, was genau als unterdurchschnittlich erfasst wird. Faktisch existieren unterschiedliche Grenzen und natürlich haftet dieser Grenzziehung immer etwas Willkürliches an. EU-weit jedenfalls hat man sich auf die Armutsrisikoschwelle von 60 % des Medianeinkommens geeinigt, erfasst werden hierbei Haushalte. Die zugrundeliegende Skala wurde von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ausgearbeitet und berücksichtigt die Einsparungen durch gemeinsame Haushaltsführung sowie die verschiedenen Bedürfnisse von Kindern und Erwachsenen. Wichtig ist außerdem noch der Hinweis auf den Median, der statt des arithmetischen Mittels verwendet wird: Hierbei werden die Einwohner eines Landes in zwei gleich große Hälften geteilt und in der Mitte die Grenze gezogen; so verzerren bspw. einzelne sehr reiche Personen das Ergebnis nicht.
Neben dieser Basisunterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut existieren noch zahlreiche andere Konzepte der monetären Armutserfassung wie bspw. der Lebenslagen- oder Deprivationsansatz.3 Erwähnt sei an dieser Stelle noch der Ressourcenansatz: Auch hier wird Armut über die verfügbare Geldsumme definiert, nämlich das jeweilige Einkommen einer Person. „Mit Einkommen werden im Wesentlichen alle Geldressourcen bezeichnet, die in einen Haushalt fließen, entweder in Form von Arbeitseinkommen, Kapitaleinkommen, Sozialtransfers oder privaten Transfers. Das Vermögen wird demgegenüber nicht berücksichtigt, weil es eine Einkommensbestandsgröße und keine Flussgröße ist. Ein dem Haushalt zustehendes ,Einkommen‘ inkludiert aber auch den in Geld ausgedrückten Wert von erhaltenen Sach- bzw. Dienstleistungen bzw. von der Haushaltsproduktion (abzüglich der entstandenen Kosten)“4. Auch hier stellt sich die Frage, wie hoch das Einkommen sein muss, um Bedürfnisse abdecken zu können und wie umfassend letztere gefasst werden.
Dass das Vermögen in der Standarderfassung zumeist keine Berücksichtigung findet, stellt vermutlich einen der größten Schwachpunkte in der Armutsberichterstattung im Allgemeinen dar, denn selbstredend macht es für den Lebensstandard einen großen Unterschied, ob eine Person bspw. Miete bezahlen muss oder in einer Eigentumswohnung lebt. Mit dieser Schwierigkeit waren auch wir konfrontiert.
Der Vorteil dessen, Armut rein materiell zu erfassen, liegt in der unverfälschten Erfassung des Kerns von Armut: Eine Person verfügt über zu wenig Einkommen, um ein Leben gemäß dem Standard in ihrer Gesellschaft zu führen. Dennoch haben wir uns in diesem Projekt gegen diese eindimensionale Armutserfassung entschieden. So wird in der Armutsforschung allgemein sowie auch durch die von uns geführten Interviews immer wieder deutlich, dass Armut nicht nur rein monetär zu erfassen ist, da sie sich auf alle Bereiche des Lebens auswirkt. So stellt die Einkommensarmut zwar den Kern des Phänomens dar, jedoch wird ein Leben in Armut mit seinen vielfältigen Problemlagen nicht adäquat erfasst, wenn man es auf diese Dimension des Geldes reduziert. So zeigen Studien bspw. einen deutlichen Zusammenhang zwischen Armut und geringerer formaler Bildung, einem schlechten Gesundheitszustand und prekären Wohnverhältnissen auf. Mit ebendiesen Momenten wurden auch wir in den Betroffenen- und Experteninterviews konfrontiert. Dies alles bestätigte uns in der Entscheidung für einen mehrdimensionalen Armutsbegriff, wie er in Amartya Sens Konzept des Capability Approach vorliegt.
2 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2025: Armut (https://www.bmz.de/de/service/lexikon/armut-14038; Zugriff: 12.03.2025).
3 Schildbach, Ina 2024: Armut verstehen. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag, S. 56ff.
4 Heitzmann, Karin/Angel, Stefan 2021: Monetäre Armut. In: Schweiger, Gottfried/ Sedmak, Clemens (Hg.): Handbuch Philosophie und Armut. Stuttgart: J. B. Metzler 2021, S. 13- 19, S. 14.
Der Capability Approach von Sen befasst sich ganz grundlegend mit dem Begriff der Freiheit und wie dieser in Zusammenhang mit dem Leben steht: Gesellschaften, so Sen, sind dann erfolgreich, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger große Freiheiten genießen. Reichtum wird dabei als Mittel betrachtet, mehr Freiheiten bei Lebensentscheidungen zu haben, indem Wahlmöglichkeiten bestehen, die jeweils realistisch umzusetzen wären. Freiheiten ermöglichen soziales Leben, Einfluss auf die Umwelt und Austausch mit dieser sowie den Ausdruck des eigenen Willens.5 Als wesentliche Bestandteile menschlicher Freiheiten nennt Sen politische und bürgerliche Freiheiten. Freiheiten lassen sich, so Sen, folgendermaßen aufteilen: Einerseits gibt es die Prozesse, die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ermöglichen, andererseits die tatsächlichen Chancen, die ein Individuum aufgrund seiner konkreten persönlichen und sozialen Verhältnisse hat.6 Eine Gesellschaft ist dann gerecht, wenn ein hoher Anteil der Bürger über entsprechende Verwirklichungschancen (Capabilities) verfügt.7
Verwirklichungschancen werden definiert als jene „substantiellen Freiheiten, die es ihm [dem Menschen, V.A.] erlauben, ein mit guten Gründen erstrebtes Leben zu führen“.8 Die Erweiterung ebenjener Verwirklichungschancen ist Sen zufolge zentral. Deren Maximierung soll zum einen durch öffentliche Maßnahmen und zum anderen durch partizipatorische Elemente, die Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihrer Freiheit ergreifen können, erfolgen.9
Verwirklichungschancen nach Sen: die „substantiellen [sic!] Freiheiten, die es ihm [dem Menschen, V. A.] erlauben, ein mit guten Gründen erstrebtes Leben zu führen“.10
Armut wird demnach nicht (nur) als fehlendes oder geringes Einkommen aufgefasst, sondern als Mangel an Verwirklichungschancen.11 Sen argumentiert, dass Zusammenhänge zwischen diesen beiden Elementen bestehen, diese jedoch nicht zwangsläufig proportional sind:12
„Armut muss gesehen werden als Mangel an grundlegenden Verwirklichungschancen und nicht nur als niedriges Einkommen, was in der Regel das Kriterium für Armut ist. Armut als Mangel an Verwirklichungschancen aufzufassen, bedeutet nicht, zu leugnen, dass ein geringes Einkommen eindeutig einer der Hauptgründe von Armut ist, da fehlendes Geld ein wesentlicher Faktor für den Mangel an Verwirklichungschancen ist.“13
Inwiefern Einkommen und Verwirklichungschancen einander bedingen, ist beispielsweise abhängig von Alter, Geschlecht, Wohnort oder sozialer Rolle. Um dies zu konkretisieren, führt Sen den Begriff der Umwandlung an: Einkommen verlangt nach der Fähigkeit, dieses in Verwirklichungschancen umwandeln zu können. Ältere Menschen, die ein geringes Einkommen haben, können zusätzlich auch mit einer erschwerten Umwandlung konfrontiert sein.14 Funktionen (functionings) sind jene Zustände und Handlungen, die eine Person als erstrebenswert erachtet und deswegen aus ihren Verwirklichungschancen für die Umsetzung wählt.
Das folgende Beispiel veranschaulicht den Zusammenhang von Verwirklichungschancen und Funktionen: Die eigene Gesundheit wird unter anderem durch Ernährung beeinflusst. Um sich gesund ernähren zu können, sind beispielsweise Verwirklichungschancen wie die Verfügbarkeit entsprechender Lebensmittel sowie ausreichend Geld, diese zu kaufen, notwendig. Kann eine Person aus den ihr zur Verfügung stehenden Verwirklichungschancen wählen, um sich gesund zu ernähren, kann die Funktion der Gesundheit, als anzustrebender Zustand, eintreten. Umgekehrt bedeutet ein Mangel an Verwirklichungschancen, dass die Funktion nicht eintreffen kann:
„Naja, es ist wahrscheinlich einfacher, sich gesund zu ernähren, wenn man mehr Geld hat, weil man dann einfach, äh, nicht drauf schauen muss, was günstig ist, sondern halt das kaufen kann, was jetzt gut tut für seinen Körper, oder wenn ich jetzt zur Tafel geh, muss ich halt das essen, was ich krieg. Und vielleicht nicht das, was das Gesündeste für mich wäre.“ (Herr L, Pos. 48)
Ältere Menschen brauchen gegebenenfalls ein viel höheres Einkommen, um dieselben Funktionen zu erreichen wie ein Mensch jüngeren Alters, da ältere Menschen beispielsweise physisch andere Bedarfe haben.15 Die Umwandlungsfaktoren (Conversion Factors) können eingeteilt werden in persönliche, soziale und natürliche Umwandlungsfaktoren. Persönliche Umwandlungsfaktoren sind beispielsweise der Gesundheitszustand, das Geschlecht oder individuelle Fähigkeiten.
Individuelle Umwandlungsfaktoren oder individuelle Potenziale „stellen jene Faktoren dar, die in jede Gesellschaft der Welt mitgenommen werden können oder müssen. Dazu gehören finanzielle Potentiale, wie das Einkommen oder Vermögen, aber auch die Güterausstattung sowie nichtfinanzielle Potentiale wie der eigene Gesundheitszustand oder die eigene Bildung“.16
Zu den sozialen Umwandlungsfaktoren zählen zum Beispiel soziale Rollenverteilungen, politische Zustände oder Diskriminierungen. Mit den natürlichen Umwandlungsfaktoren werden unter anderem Klima und geografische Bedingungen erfasst.17
Soziale Umwandlungsfaktoren bzw. gesellschaftlich bedingte Chancen sind die vom Staat und der Gesellschaft bereitgestellten Möglichkeiten, die individuellen Potenziale in Verwirklichungschancen umzuwandeln, bspw. das Bildungs- und Gesundheitssystem. Hierzu rechnet Sen auch Dimensionen des ökologischen und sozialen Schutzes (wie Schutz vor Umwelt- und Klimakrisen sowie Kriminalität) und politischen Chancen auf Partizipation und Transparenzgarantien (wie der Informiertheit über eigene soziale Rechte bzw. (Nicht-)Inanspruchnahmequoten).
Der Ansatz von Sen wurde auch immer wieder im Kontext der Nachhaltigkeits- und Postwachstumsdebatte herangezogen. Hier findet auch der von Sen maßgebliche mitentwickelte Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen Verwendung.18 Andere Ansätze, wie die „Imperiale Lebensweise“ von Brand und Wissen befassen sich ebenfalls mit diesen Fragen. Laura Wanninger hat sich mit diesen globalen Fragen im Rahmen ihrer Bachelorarbeit auseinandergesetzt.
Laura Wanninger
Die marxistische Klassentheorie betont die ungleiche Verteilung von Produktionsmitteln als Hauptursache sozialer Ungleichheit. Diese Ungleichheit spiegelt sich auch in der Klimakrise wider. Menschen mit weniger Besitz sind stärker von Umweltbelastungen betroffen, während vermögendere Gruppen leichter Zugang zu Einfluss und Schutzmaßnahmen haben. Global zeigt sich die Kluft zwischen Globalem Norden und Globalem Süden, die historisch durch Kolonialisierung und Ausbeutung begründet ist.
Brand und Wissen knüpfen an Marx an, erweitern den Fokus aber auf die Imperiale Lebensweise, bei der der Globale Norden durch den Zugriff auf Ressourcen und Arbeitskraft des Globalen Südens profitiert. Dies verstärkt die globale Ungleichheit in der Klimakrise. Während Marx den internationalen Klassenunterschied betont, rücken Brand und Wissen das globale Nord-Süd-Gefälle in den Vordergrund.
Beide Theorien stimmen darin überein, dass Besitz und Vermögen die Zugänge zu Ressourcen und Schutzmaßnahmen vor den Folgen der Klimakrise bestimmen. Die Ungleichheitslinie verläuft jedoch nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch innerhalb der Gesellschaften beider Regionen. Diese Erkenntnis verdeutlicht, dass Ungleichheit in der Klimakrise komplex und mehrdimensional ist, beeinflusst von Kapital, Klasse, geografischer Lage und Geschlecht.
Die oben erläuterten Begrifflichkeiten der Verwirklichungschancen und Funktionen finden im folgenden Beispiel Anwendung:
Frau D stehen folgende Verkehrsmittel zur Verfügung: ein eigenes Auto, der Stadtbus sowie das Fahrrad. Frau D entscheidet sich je nach Ziel und Tag, ob sie mit Fahrrad, Auto oder Bus fährt und viele Strecken könnte sie auch laufen, da sie zentral wohnt. Aufgrund ihres zentralen Wohnortes kann sie viele Buslinien nutzen und auch der Bahnhof ist nah.
Frau E hat eine Gehbeeinträchtigung und ist auf ein Elektromobil als Hilfsmittel angewiesen. Um sich in der Stadt fortzubewegen, nutzt sie den Stadtbus. Fahrrad- sowie Autofahren sind aus gesundheitlichen Gründen keine Option für sie. Aufgrund ihres dezentralen Wohnortes ist es in der Regel immer notwendig, mit dem Bus zu fahren, um ihre Ziele zu erreichen. Frau E erlebt hierbei jedoch häufig Schwierigkeiten: Busfahrer und Busfahrerinnen verweigern ihr die Mitfahrt oder andere Mitfahrende räumen Frau E keinen Platz frei im Bus, damit sie mit ihrem Elektromobil ohne Hindernisse im Bus mitfahren kann. So kommt es vor, dass Frau E auf den nächsten Bus warten muss, der sie dann hoffentlich befördert: „Ich habe zweimal schon Beschwerden erhebt, weil mich der Busfahrer, obwohl er das Zeichen gesehen hat, hat er mich nicht mitgenommen.“ (Frau E, Pos. 132-138) und auch: „Oder die Fahrgäste, die lassen dich ja oft gar nicht rein.“ (Frau E, Pos. 144)
Frau D und Frau E verfügen über dieselbe Funktion: Sie erreichen ihr Ziel (irgendwann), indem sie mit dem Stadtbus fahren. Während Frau D sich aktiv dafür entscheidet und ihre Alternativen (Auto, Fahrrad) ablehnt, bietet sich für Frau E nur diese sie einschränkende Möglichkeit der Mobilität. Frau D fühlt sich beim Busfahren gut, während dieselbe Funktion für Frau E Abhängigkeit und einen Einschnitt in ihre Lebensqualität bedeutet.
Im Gegensatz zu Verwirklichungschancen sind Funktionen beobachtbar.19 Die folgende Abbildung veranschaulicht das Zusammenspiel von Umwandlung, Verwirklichungschancen und Funktionen:
Abbildung 1: Die Komponenten des Capability Approach

Quelle: Eigene Darstellung nach Otto und Atzmüller 201520
Ressourcen werden umgewandelt in Verwirklichungschancen. Aus den Verwirklichungschancen wiederum wählt eine Person eine Option; daraus ergeben sich die Funktionen. Diese Wahl wird aufgrund der eigenen Biografie, Werte, Präferenzen und Persönlichkeit getroffen.
In Abbildung 2 sind potenzielle Faktoren, welche die Entstehung von Verwirklichungschancen beeinflussen, aufgeschlüsselt. Neben persönlichen Umwandlungsfaktoren und finanziellen Mitteln tragen soziale sowie natürliche Umwandlungsfaktoren und beispielsweise der Zugang zu Märkten zur Bildung der Verwirklichungschancen bei.
Abbildung 2: Überblick über die Bestimmungsfaktoren von Verwirklichungschancen

Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung 201421
Bezeichnend für den Capability Approach ist, dass nicht nur Funktionen, also tatsächlich Erreichtes, betrachtet werden, sondern auch Verwirklichungschancen. Diese Eigenschaft ist einzigartig und grenzt den Capability Approach von anderen uni- und multidimensionalen Ansätzen ab.22
Wie dargelegt, ist der Capability Approach ein auf Werten basierender Ansatz. Den Fokus weg vom Einkommen hin auf Verwirklichungschancen zu richten, geht auch damit einher, dass es im Umfeld eines Menschen demokratischer Prozesse, namentlich politischer und bürgerlicher Freiheiten, bedarf. (Wirtschafts-)politische Entscheidungen werden in Demokratien diskutiert, Bürgerinnen und Bürger also partizipativ einbezogen. Diese Diskussionen beinhalten die Priorisierung und Wertung von Verwirklichungschancen, denn „[w]o es um öffentliche Urteile geht, ist es unausweichlich, Werte in aller Öffentlichkeit zu erörtern“23.
Im Folgenden wird auf dieser theoretischen Basis, der in diesem Bericht zugrunde gelegte Armutsbegriff erläutert.
5 Sen, Amartya 2020: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. 1. Auflage. München: Carl Hanser, S. 25f.
6 Ebd., S. 28f.
7 Reinecke, Frank 2012: Dimensionen der Altersarmut in Deutschland. Ein Erklärungsmodell basierend auf dem Befähigungsansatz nach Martha C. Nussbaum. Dissertation. Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg, S. 69.
8 Sen, Amartya 2020: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. 1. Auflage. München: Carl Hanser, S. 110.
9 Ebd., S. 29.
10 Ebd., S. 110.
11 Ebd., S. 32.
12 Ebd., S. 115.
13 Sen, Amartya 2000: Development as Freedom. New York: Alfred A. Knopf, S.87, eig. Übersetzung.
14 Sen, Amartya 2020: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. 1. Auflage. München: Carl Hanser, S. 89f.; S. 111f.
15 Ebd., S. 95.
16 IAW 2006: Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen). Empirische Operationalisieren im Rahmen der Armuts- und Reichtumsmessung. Machbarkeitsstudie (https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/machbarkeitsstudie-konzept-verwirklichungschancen.pdf?__blob=publicationFile&v=2; Zugriff: 03.12.2024), S. VII.
17 Robeyns, Ingrid 2005: The Capability Approach: a theoretical survey. In: Journal of Human Development 6 (1), S. 93–117, S. 99.
18 Exemplarisch hierzu die Arbeiten der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages. Deutscher Bundestag (2011): BT-Drucksache 17/13300.
Siehe auch Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.) 2014: Was macht ein gutes Leben aus? Der Capability Approach im Fortschrittsforum. 1. Auflage. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung (Fortschrittsforum), S. 15ff.
Zur „Imperialen Lebensweise“: Brand, Ulrich/Wissen, Markus 2017: Imperiale Lebensweise. München: oekom.
19 Leßmann, Ortrud 2013: Empirische Studien zum Capability Ansatz auf der Grundlage von Befragungen – ein Überblick. In: Gunter Graf und Elisabeth Kapferer (Hg.): Der Capability Approach und seine Anwendung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 25–61, S. 25.
20 Eigene Darstellung nach Otto, Hans-Uwe; Atzmüller, Roland (Hg.) 2015: Facing trajectories from school to work. Towards a capability-friendly youth policy in Europe. Cham, Heidelberg, New York, Dordrecht, London: Springer (Education, vol. 20), S. 44.
21 Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.) 2014: Was macht ein gutes Leben aus? Der Capability Approach im Fortschrittsforum. 1. Auflage. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung (Fortschrittsforum), S. 12.
22 Krishnakumar, Jaya 2021: Econometric and Statistical Models for Operationalising the Capability Approach. In: Enrica Chiappero Martinetti, Siddiqur Rahman Osmani und Mozaffar Qizilbash (Hg.): The Cambridge Handbook of the Capability Approach. Cambridge, New York, NY, Melbourne, New Delhi, Singapore: Cambridge University Press, 453-476, S. 454.
23 Sen, Amartya 2020: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. 1. Auflage. München: Carl Hanser, S. 89f.; S. 137.
Obwohl Sens mehrdimensionaler Ansatz zur Erfassung von Armut sehr sinnvoll und geeignet erscheint, ist es kaum möglich, ihn vollständig in der Praxis anzuwenden. Zwar gab es mehrere Versuche, bspw. im zweiten Lebenslagenbericht der Bundesregierung, zugleich handelt es sich hierbei fast immer um eine modifizierte Fassung, in der die vorgenommene Operationalisierung den Erfordernissen der Machbarkeit Rechnung trägt. Auch wir haben uns deswegen am Ansatz der Operationalisierung in der sogenannten „Machbarkeits-Studie“ orientiert, die als Begleitstudie des zweiten Armuts- und Reichtumsberichts erschienen ist.24 Um den Capability Approach in all seinen Facetten auf die Armutslage in Regensburg anzuwenden, fehlten an einigen Punkten die Datengrundlagen und die nötigen finanziellen und personellen Kapazitäten. Weswegen haben wir uns dennoch für dieses Konzept entschieden? Welche Elemente finden sich wie in diesem Bericht und worauf musste aus Gründen der Praktikabilität verzichtet werden?
Von Armut betroffen zu sein, bedeutet im Kern, über wenig materielle Ressourcen zu verfügen. Dies stellt die Grundlage dessen dar, um überhaupt unter das Attribut arm zu fallen, dies soll auch nicht durch eine Erweiterung des Begriffs auf andere Dimensionen wie „Wohnen“ oder „Gesundheit“ negiert werden. Schließlich stellt dies einen häufigen Vorwurf gegen multidimensionale Konzepte dar: Armut würde relativiert werden, indem die finanzielle Dimension mit anderen gleichgesetzt wird. Tatsächlich soll hier weder eine Gleichsetzung noch eine Relativierung vorgenommen werden.
Wie dargestellt, bleibt das Verfügen über wenig materielle Mittel Basis und Ausgangspunkt; die Begriffe „Armut“ und „Reichtum“ würden andernfalls ihre Substanz verlieren. Dennoch wurde auch in den Interviews für diesen Bericht erneut deutlich, dass ein eindimensionaler Armutsbegriff zu kurz greift. „Was bedeutet ein Leben in Armut in Regensburg?“ – Dies stellt die Leitfrage unseres Forschungsprojekts dar. Der Verweis auf die geringe Geldsumme wäre zwar zutreffend, aber unterkomplex. Die Betroffenen- aber auch Experteninterviews zeigen: Armutsbetroffene leben häufig in einer problematischen Wohnsituation, sie verfügen über eine beeinträchtigte Gesundheit, haben eingeschränkte Kontakte, nehmen kaum an gesellschaftspolitischen Fragen und Ereignissen teil und scheinen häufig auch Gefühle der Scham und Ohnmacht über einen geringen Selbstwert zu verspüren. Die geringe Geldsumme buchstabiert sich in allen Dimensionen des Lebens negativ aus.
Dies ist in den Publikationen über Armut gut erforscht und genau aus diesen Gründen werden multidimensionale Ansätze herangezogen. Hier soll der Fokus jedoch noch auf einen weiteren Punkt gelegt werden: Die geringen finanziellen Potenziale einer Person beeinträchtigen nicht nur viele andere Lebensbereiche, sondern sie verselbstständigen sich auch zu weiteren Problemlagen. Das erscheint banal, wird in seiner Bedeutung – insbesondere auch in der Diskussion um die Bekämpfungsmaßnahmen – nicht ausreichend gewürdigt: Von Armut betroffene Menschen sehen sich häufig neuen Herausforderungen gegenüber, die in ihrem Ursprung zwar oft auf die geringen materiellen Mittel zurückzuführen sind, dann jedoch ihr Leben auch unabhängig vom Ausgangspunkt massiv beeinträchtigen. Wer sich beispielsweise aus Scham über die eigene Armut weitestgehend aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzieht, erfährt seltener Selbstwirksamkeit, verfestigt einen geringen Selbstwert und vereinsamt sukzessive. Diese Spirale kann kaum mehr selbstständig durchbrochen werden, selbst wenn die Person plötzlich über viel Geld verfügen würde. Armutsbetroffenheit verändert also grundlegend die Lebenslage eines Menschen und ihre Verbesserung erfordert mehr als eine rein finanzielle Besserstellung.
Der Capability Approach trägt dieser multiplen Betroffenheit eher Rechnung als andere Konzepte, insofern nicht nur die finanziellen, sondern umfassender alle individuellen Potenziale einer Person – wie Gesundheitszustand, Bildung und Wohnsituation – einbezogen werden. Außerdem lässt sich mit ihm das komplexe Verhältnis zwischen individueller Ausstattung und Möglichkeiten der Verwirklichung durch die sog. gesellschaftlich bedingten Chancen erfassen: Es macht einen Unterschied, ob eine Person mit ihren Fähigkeiten und Ressourcen in einer Umgebung mit vielen Angeboten und Entfaltungsmöglichkeiten lebt oder ob diese Voraussetzungen zur Selbstentfaltung nicht vorhanden sind. Natürlich sind die sozialen Umwandlungsfaktoren in Deutschland im Verhältnis zu anderen Staaten qualitativ sehr hochwertig. Für die kommunale Armutsberichterstattung, wie hier in einem Armutsbericht für Regensburg, ist der Fokus des Ansatzes von Sen von großem Interesse, da sich Stadt und Land sowie Städte untereinander in ihren öffentlichen und ehrenamtlichen Unterstützungsangeboten massiv unterscheiden. Der Capability Approach ermöglicht es, die konkrete Hilfslandschaft in Regensburg in den Blick zu nehmen. Da sie unseren Ergebnissen zufolge in weiten Teilen sehr gut ausgebaut ist, ist es umso wichtiger, den Blick auf Armut nicht zu verzerren und dennoch Lücken in der Versorgung zu identifizieren. Die gesellschaftlich bedingten Chancen können von Staat und Gesellschaft schließlich unmittelbar beeinflusst werden.25
24 IAW 2006: Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen). Empirische Operationalisieren im Rahmen der Armuts- und Reichtumsmessung. Machbarkeitsstudie (https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/machbarkeitsstudie-konzept-verwirklichungschancen.pdf?__blob=publicationFile&v=2; Zugriff: 03.12.2024).
25 Ebd., S. VIIf.
Bestimmte Dimensionen zu erörtern, ist für die Untersuchung einer von Armut betroffenen Lebenslage im 21. Jahrhundert unabdingbar. Dennoch „ist die Auswahl der für die Verwirklichungschancen als relevant angesehenen Bereiche und Indikatoren immer mit Werturteilen verbunden“26, was auch für diesen Bericht zutrifft. Drei Kriterien haben hierbei die Auswahl geleitet:
Erstens und im Kern geht es darum, die tatsächliche Relevanz einer Dimension für armutsbetroffene Menschen zu erfassen und dementsprechend darzustellen. Dies klingt banal, ist jedoch bei dieser Thematik nicht immer einfach, da sich manchmal unerwartete Widersprüche ergeben. So wurde beispielsweise in den Betroffenen-Interviews mehrmals betont, dass man sich selbst nicht als arm bezeichnen würde und die eigene Wohnsituation zufriedenstellend sei. Da wir alle Betroffenen-Interviews bis auf zwei allerdings bei Essensausgaben, für deren Besuch man entsprechende Nachweise der Bedürftigkeit vorlegen muss, durchgeführt haben, war evident, dass unsere Interviewpartnerinnen und -partner materielle Einschränkungen haben. Auch hinsichtlich der Wohnsituation lässt sich auf Basis der Daten darstellen, dass diese sehr häufig belastend sein muss; in einem Fall war dies durch eine aufsuchende Interviewmethode sogar ganz offensichtlich. Aufgrund konträrer Aussagen, der Datenlage sowie vor allem anderer Ergebnisse wie der Schambehaftung wird deutlich, dass die Relevanz einer Dimension also nicht immer klar zu Tage liegt, sondern häufig zahlreiche Faktoren in die Abwägung einbezogen werden müssen.
Zweitens soll der Armutsbericht einer breiten Öffentlichkeit als Informations- und Diskussionsgrundlage dienen. Insofern ist es notwendig, ein „durchdachtes Präsentationskonzept“ zu finden, dass „die Aussagekraft des Gesamtspektrums an relevanten Indikatoren erhält, sich aber gleichzeitig auf wesentliche Aspekte beschränkt, soweit diese als Basis für eine Versachlichung der Diskussion in der breiten Öffentlichkeit notwendig sind“27. Wie oben dargestellt, ist das Konzept des Capability Approach komplex, sodass eine Reduktion notwendig war. Aufgrund der zahlreichen Vorurteile und vieler problematischer Diskurse über Armutsbetroffene haben wir uns dazu entschieden, den Fokus auf die Darstellung der Problemlage zu legen, um ein Leben in Armut auch für Nicht-Betroffene abzubilden. Im Idealfall soll dadurch ein Beitrag zur Sensibilisierung gegenüber diesem Thema in der Regensburger Stadtgesellschaft geleistet werden. Insbesondere hinsichtlich der Umwandlungsfaktoren, die bei Sen vielzählig aufgeschlüsselt werden, mussten wir uns deswegen begrenzen. Dadurch werden selbstredend einige Elemente des Konzepts nicht berücksichtigt, die in einer umfassenden Arbeit aufgegriffen werden müssten.
Drittens schließlich erfolgte die Auswahl auch schlicht nach dem Kriterium der Machbarkeit für ein sehr kleines, über geringe Mittel verfügendes Forschungsteam. So bestanden keinerlei Möglichkeiten, eigene quantitative Erhebungen durchzuführen, um etwaige Datenlücken zu schließen. Eine überschaubare Erfassung durch Fragebögen an der Tafel fließt nur selten und entsprechend gekennzeichnet in den Bericht ein, da die Ergebnisse durch die Dominanz von Ukrainerinnen im Sample stark verfälscht sind. Durch die qualitativen Interviews ergaben sich einige neue Sichtweisen und letztlich Schwerpunkte, die in diesem Bericht durch einzelne Dimensionen oder Unterkapitel ihren Niederschlag finden. So war es bspw. nicht vorab geplant, die „sozialpsychologische Dimension“ auszuführen; die massiven Hinweise auf die Relevanz dieses Themas – siehe Kriterium eins – haben uns jedoch, ähnlich wie beim Unterkapitel Einsamkeit, hierzu gebracht. Umgekehrt jedoch gibt es auch Dimensionen, die wir kaum oder gar nicht durch eigenes Material erfassen konnten. Dies betrifft den Bereich Behinderung und chronische Krankheit als häufig genannte Unterpunkte der Dimension „Gesundheit“. Auch ergaben sich Lücken hinsichtlich des Nachvollzugs einiger Regensburger Besonderheiten, die nur durch weitere Forschungen behoben werden könnten.
Die Bedeutung der einzelnen Dimensionen für ein Verständnis der Situation von Armutsbetroffenen wird in den einzelnen Kapiteln jeweils dargestellt. Dem soll hier nicht vorweggegriffen, aber dennoch eine kurze Einordnung eingeräumt werden.
Die finanzielle Dimension beschäftigt sich mit den finanziellen Mitteln einer Person. Wie bereits gesagt, stellt diese Dimension nach unserem Verständnis bleibend den Kern der Bezeichnung einer von Armut geprägten Lebenslage dar, weswegen unsere Analyse auch mit der finanziellen Dimension eröffnet wird. Untergliedert wird diese in das Einkommen, Arbeitsmarkt, Sozialleistungen und Schulden. Das Unterkapitel Einkommen ist selbsterklärend: Es stellt die finanziellen Potenziale eines Individuums dar, das dieses Individuum zur Erlangung von Verwirklichungschancen nutzen kann. Lebt eine Person in einem Haushalt, deren äquivalenzgewichtetes Monatsnettoeinkommen unter 60 % des Mediannettoeinkommens liegt, fällt sie in die Kategorie der finanziellen Armut. Tatsächlich aber zeigt „die Einkommenssituation nur einen Ausschnitt aus der finanziellen Situation eines Haushalts. Bei gleichem Einkommen wird der materielle Spielraum eines Haushalts maßgeblich vom Umfang des Vermögens oder der Schulden bestimmt“28, weswegen diese Kategorien einen integralen Bestandteil der finanziellen Dimension darstellen. Bzgl. dem Arbeitsmarkt mag die Einordnung auf den ersten Blick erstaunen, erscheint sie bei Sen doch unter der Analyse der ökonomischen Chancen. Der Ökonom Sen nimmt diese Einordnung vor, da die Gestaltung des Arbeitsmarktes durch die Nachfrage der Unternehmen und der öffentlichen Hand eine Bedingung darstellen, die die Menschen vorfinden. Sie sind mit ihren individuellen Potenzialen sozusagen in diese Lage gesetzt; die Nachfrage nach Arbeitskräften an sich ist durch den einzelnen nicht zu beeinflussen. Dies ist analog zum Bildungs- oder Gesundheitssystem zu sehen, sofern man die Möglichkeit der Privatversorgung von Wohlhabenden ausklammert. Deswegen liegen diese Kategorien in der Logik des Capability Approach auf der Seite der sozialen Umwandlungsfaktoren bzw. sozialen und ökonomischen Chancen. Wir haben uns dennoch dafür entschieden, den Arbeitsmarkt als Teil der finanziellen Dimension zu behandeln, da sich durch ihn ganz wesentlich das Einkommen einer Person bestimmt. Die Preis- bzw. Lohngestaltung auf dem Arbeitsmarkt entscheidet schließlich für den erwerbstätigen Teil der Bevölkerung über den materiellen Status während der Zeit ihrer Erwerbstätigkeit sowie im Rentenbezug. Gerade in der Verschränkung zu persönlichen Umwandlungsfaktoren wie Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund stellt die Bandbreite der Haushaltseinkommen einen wesentlichen Bestimmungsfaktor zur Erklärung der spezifischen Armutsrisikoquoten dar.
Die zweite Dimension „Wohnen“ ist – im Allgemeinen und speziell für Regensburg wenig überraschend – ein wichtiges Kapitel, das vor allem mit den finanziellen Potenzialen und Lebensqualität im Allgemeinen verbunden ist. Bekanntermaßen hat Regensburg nach München die zweitteuersten Mieten in Bayern und selbstredend wirkt sich dies auf die für andere Ausgaben zur Verfügung stehende Geldsumme aus. Die finanzielle Belastung aufgrund der Mietpreise ist für breite Teile der Bevölkerung und insbesondere die Armutsbetroffenen also enorm. Für viele wird es immer schwieriger, eine für die Haushaltsgröße ausreichend platzbietende Wohnung zu finden; auch die Qualität hinsichtlich ermöglichter Mobilität, Grünflächen in der Umgebung, Lärmbelästigung etc. stellen wichtige Kriterien für ein Leben mit Wahlmöglichkeiten dar. Zu wohnen hat insofern viel mehr Facetten als nur ein Dach über dem Kopf zu haben:
„Sie ist auch die Grundlage für wesentliche sozio-kulturelle Verwirklichungschancen, etwa, sich – ohne Scham und Beeinträchtigung der Selbstachtung – mit Freunden treffen zu können, eine geschützte Privatsphäre zu gewährleisten, aber auch von dort aus am sozio-kulturellen Leben teilhaben zu können“29.
In der Logik der Machbarkeitsstudie wird „Wohnen“ unter „sozialem Schutz“ eingeordnet; aufgrund der herausragenden Relevanz dieses Aspekts für die Lebenslage der Betroffenen wird diesem Bereich im Bericht jedoch ein eigenes Kapitel gewidmet und darin auch der Unterpunkt „Obdachlosigkeit“ dargelegt.
Bildung, die dritte Dimension, stellt ein zentrales individuelles Potenzial dar und entscheidet als solches ganz wesentlich über die Platzierung auf dem Arbeitsmarkt. Aus Sicht des Capability Approach hat sie „eine sehr umfassende Bedeutung“: „Zum einen hat Bildung heute einen hohen Stellenwert für die ökonomischen (Arbeitsmarkt-) Chancen. Ein höheres Qualifikationsniveau ermöglicht beispielsweise ein tendenziell höheres Arbeitseinkommen, mehr und bessere Aufstiegschancen und vermindert das Risiko arbeitslos zu werden. Zum anderen beinhaltet eine höhere Qualifikation auch vielfältige weitere Konsequenzen für die gesamten Verwirklichungschancen. So wirkt sich Bildung u. a. nachweislich positiv auf Gesundheitszustand, Lebenserwartung, soziale Beteiligung und auf die informierte Beteiligung bei politischen Wahlen aus“30. Bildung wird hierbei in der Regel in formale und informelle Bildung eingeteilt. Im vorliegenden Bericht beschränken wir uns primär auf den Aspekt der formalen Bildungsabschlüsse und insofern auf die enge Verschränkung zu dem Aspekt der Bildung als Umwandlungsfaktor zur Realisierung von Verwirklichungschancen auf dem Arbeitsmarkt. Wichtig ist außerdem noch, dass mit Bildung die Fähigkeit einhergeht, „eigene Ansprüche im System der sozialen Sicherung vollständig zu erkennen, wahrzunehmen und durchzusetzen“31, was unter dem aufzugreifenden Punkt der Nicht-Inanspruchnahme relevant ist.
Die vierte Dimension widmet sich der Gesundheit. Hier sind zunächst bundesweite Daten zur Lebenserwartung in Bezug auf Armut von Interesse, da ein kürzeres Leben naturgemäß mit eingeschränkten Verwirklichungschancen einhergeht. Vor allem aber ist auch die gesunde Lebenserwartung wichtiger Bezugspunkt, da die Möglichkeit der Selbstverwirklichung natürlich vor allem eine Frage der Qualität und weniger der Quantität darstellt: Wie lange bin ich gesundheitlich in der Lage, meine Vorhaben zu realisieren? Aus Sicht des Capability Approach ist in dieser Dimension „weniger das Auftreten einer Krankheit an sich, sondern vielmehr die von ihr ausgehende Beeinträchtigung des Lebens von Bedeutung. Sie kann – bei gleichen Krankheiten und Behinderungen – sehr unterschiedlich ausfallen, je nach verfügbaren sozialen Netzen, Behandlungsintensität und -erfolg usw.“32 Der Machbarkeitsstudie zufolge bietet es sich insofern an, „subjektive Betroffenheit und Konsequenzen von einzelnen Krankheiten und Behinderungen im Einzelfall zu erfragen“33. Dies haben wir bei den Interviews befolgt, allerdings sind die Fallgeschichten und damit die jeweiligen Beeinträchtigungen, auch je nach Alter, sehr unterschiedlich, sodass es schwierig ist, auf Basis dessen zu Verallgemeinerungen bzw. auch Handlungsempfehlungen zu kommen.
Die fünfte Dimension beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Teilhabe, unter die unter anderem die politische und digitale Teilhabe fällt. Es handelt sich hier um ein Kapitel, das sich mit dem „Blick von außen“ auf Armutsbetroffene blickt: Wie sieht bspw. deren Wahlverhalten aus? Davon abzugrenzen ist die darauffolgende Dimension bzw. Kapitel: In der sechsten behandeln wir die „psychosoziale und sozialpsychologische Dimension“. Ungewöhnlich ist sie insofern, als die darin aufgehobenen Aspekte im Capability Approach wie er in der Machbarkeitsstudie präsentiert wird, keinen Niederschlag zu finden scheinen. Wie bereits angesprochen, waren wir in den Interviews immer wieder mit Scham, Problemen der mangelnden Selbstwirksamkeit, der Ohnmacht und Resignation, des geringen Selbstwerts und des Rückzugs konfrontiert. In der Literatur und Forschung werden psychische Konsequenzen der finanziellen Armut ausgiebig besprochen, allerdings beschäftigen sich nur wenige mit den genannten Elementen. Diese sind nicht pathologisch einzuordnen, aber nichtsdestotrotz von immenser Bedeutung für die Betroffenen, insofern sie die Lebensqualität und auch die soziale Teilhabe massiv beeinträchtigen. Menschen haben als soziale Lebewesen das Bedürfnis nach Austausch, Anerkennung und praktischer Wirksamkeit, was in deprivierten Lebenslagen jedoch häufig nicht erfüllt wird. Wegen dieses genuinen Zusammenhangs der genannten psychologischen Phänomene mit der gesellschaftlichen (Nicht-)Einbettung haben wir uns zu der Kategorie „sozialpsychologische Dimension“ entschlossen.
Abschließend werden in den „Handlungsempfehlungen“ die für die jeweiligen Dimensionen identifizierten Lücken komprimiert dargestellt. Auch darin besteht eine Stärke des Capability Approachs: den Blick auf die individuellen Potenziale, die gesellschaftlich bedingten Chancen zur Realisierung ebendieser und damit in einem dritten Schritt auf die Möglichkeiten zur Verbesserung dieser Bedingungen durch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu lenken.
26 IAW 2006: Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen). Empirische Operationalisieren im Rahmen der Armuts- und Reichtumsmessung. Machbarkeitsstudie (https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/machbarkeitsstudie-konzept-verwirklichungschancen.pdf?__blob=publicationFile&v=2; Zugriff: 03.12.2024), S. VIII.
27 Ebd., S. 17.
28 Ebd., S. 36.
29 Ebd., S. 87.
30 Ebd., S. 54.
31 IAW 2006: Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen). Empirische Operationalisieren im Rahmen der Armuts- und Reichtumsmessung. Machbarkeitsstudie (https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/machbarkeitsstudie-konzept-verwirklichungschancen.pdf?__blob=publicationFile&v=2; Zugriff: 03.12.2024).
32 Ebd., S. 49.
33 IAW 2006: Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen). Empirische Operationalisieren im Rahmen der Armuts- und Reichtumsmessung. Machbarkeitsstudie (https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/machbarkeitsstudie-konzept-verwirklichungschancen.pdf?__blob=publicationFile&v=2; Zugriff: 03.12.2024).
Bachelorarbeit
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