„Ich bin nirgends“ (Frau A, Pos. 24)
Zwei Punkte fielen in den Interviews mit Armutsbetroffenen immer wieder auf: Erstens war häufig die Rede von eingeschränkten sozialen Kontakten und von Einsamkeit der Armutsbetroffenen. Und zweitens fielen uns mehrfach ein Ohnmachtsgefühl sowie Resignation im Zusammenhang mit einem beschädigten Selbstwert und Scham auf – manchmal ganz direkt geäußert, manchmal auch nur mittelbar. Diesen Punkten wollen wir im folgenden Kapitel nachgehen. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei alten Menschen.
Dies ist eine stark gekürzte Fassung des Berichtsteils von Prof. Dr. Ina Schildbach. Die Langfassung mit Verweisen auf eine Vielzahl von anderen Studien und einer ausführlichen Entwicklung des theoretischen Ansatzes finden Sie hier.
Der Mensch ist ein soziales Lebewesen – eine scheinbar banale Aussage, sind wir doch durch und durch von der Gesellschaft geprägt und bedürfen ihrer, um uns zu entwickeln. Ralf Dahrendorf brachte dies mit dem Begriff des „Homo Sociologicus“ am prägnantesten auf den Punkt.1
Dieser Austausch mit anderen konstituiert unsere Identität und wirkt sich, positiv wie negativ, auf unseren Selbstwert aus. Warum ist dies im Kontext eines Armutsberichtes relevant?
Im Rahmen der Interviews mit Betroffenen sowie Expertinnen und Experten sind wir immer wieder auf zwei thematische Komplexe gestoßen: Erstens Berichte von eingeschränkten sozialen Kontakten und Einsamkeit. Zweitens Schilderungen von Ohnmachtsgefühlen, Resignation, reduziertem Selbstwert und Scham.
Wenn Menschen für die Aufrechterhaltung ihrer Persönlichkeit und ein gelingendes Leben auf soziale Einbindung angewiesen sind, was macht es dann mit ihnen, wenn sie als Armutsbetroffene kaum Kontakte zur Außenwelt zu haben scheinen, sie Einsamkeit erleben? Wie wirkt sich die erfahrene Randposition in der Gesellschaft auf das Selbstverständnis der Menschen aus? Und welche Folgen hat umgekehrt die Scham für das Selbstverständnis und die Lebenspraxis dieser Menschen?
Deswegen wird der sozialpsychologischen Dimension von Armut in diesem Bericht ein separates Kapitel gewidmet. Die sozialen Abhängigkeiten sowie Verbindungen von Menschen zu anderen sind Teil des menschlichen Selbstkonzepts und wirken sich damit unmittelbar auf das Ich aus. Hier sind im Kern drei Disziplinen – Psychologie, Sozialphilosophie und Soziologie – angesprochen. In diesem ersten Abschnitt werden die sozialpsychologischen Grundlagen behandeln, um in einem zweiten Schritt die soziale Identitätsbildung unter Bedingungen von Armut darzustellen.
Aus der Perspektive der Psychologie folgen wir dem gängigen Begriff der sozialen Identität, unter dem „der Teil des Selbstkonzepts eines Individuums verstanden (wird, I. S.), der sich aus dem Wissen um seine Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (oder Gruppen) ergibt“2. Dabei kann die Gruppenzugehörigkeit positiv oder negativ belegt sein und der emotionale Bezug auf die eigene Gruppe sowie der eigenen Identität dementsprechend unterschiedlich gestaltet sein. Ist die Bewertung negativ, werden in der Regel Versuche unternommen, die Gruppe zu verlassen.
Wird die eigene Gruppe positiv bewertet, möchte man auch Anerkennung für diese und für sich selbst als Teil dieser Gruppe. „Anerkannt zu werden, sich selbst anerkannt zu wissen, ist gleichbedeutend mit Existent-Sein, mit einem Territorium, physisch und sozial, mit dem Recht, seine Bedürfnisse und Bestrebungen zum Ausdruck zu bringen“3. Das Verfügen über ein Territorium bezieht sich auf den Fall der Anerkennung als Mitglied eines Staates, im übertragenen Sinne stimmt dies jedoch auch für Gruppen und Individuen. Allein durch den Akt der Anerkennung haben sie die Berechtigung und faktische Möglichkeit, sich in einer Gesellschaft zu entfalten; nur dann sind ihre Bedürfnisse überhaupt potenziell anerkennbar und damit verhandelbar. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass jede Gruppe und jedes Individuum bestrebt sind, das eigene soziale Prestige sowie den Grad der Anerkennung zu steigern.
Außerdem ergibt sich aus der eigenen Gruppenidentität auch ein Verhältnis zu den anderen Gruppen. Je nach eigenen Zuschreibungen kann dieses in einer Auf- oder Abwertung bestehen; innerhalb der eigenen Gruppe entwickelt sich fast immer eine solidarische Haltung gegenüber den Mitgliedern und damit eine Bevorzugung gegenüber anderen. Diese sozialpsychologische Dynamik von Auf- und Abwertung unterstellt die Existenz eines permanenten Vergleichs mit anderen und der Gesellschaft. Der gewählte Maßstab wiederum ist abhängig von den eigenen Ansprüchen und dem deswegen gewählten Vergleichspunkt: „In dem Maße, in dem objektive, nicht-soziale Mittel nicht zur Verfügung stehen, bewerten die Menschen ihre Meinungen und Fähigkeiten durch den Vergleich mit den Meinungen und Fähigkeiten der anderen”4.
Hinsichtlich der Verortung in der Hierarchie kann man aus diesem Blickwinkel nicht objektiv entscheiden, ob jemand oben oder unten steht: Aus Sicht eines Richter-Ehepaares hat es ihr Kind eventuell nicht allzu weit gebracht, wenn es „nur“ eine Ausbildung macht; in einer Arbeiterfamilie hingegen kann das Kind, das als erstes in der Familie Abitur macht, deren ganzer Stolz sein. Es gibt hier eben kein objektives Kriterium, entscheidend sind die Erwartungen der betrachtenden Person. Nur durch diesen Vergleich mit anderen kann überhaupt beurteilt werden, ob der eigene soziale Status oder jener der eigenen Gruppe hoch oder niedrig ist, die Anerkennung also erfolgt oder ausbleibt.
Die Relevanz dieser Überlegungen für Armutsbetroffene wird im Folgenden deutlich werden. An dieser Stelle soll vor allem festgehalten werden, dass nach diesem Ansatz das Selbstverständnis einer Person im sozialen Bezug gebildet wird. Dies ist auch zentral für die Verwirklichungschancen einer Person im Sinne des Capability Approach.
Auch in der Sozialphilosophie ist dieser Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Ein prominentes Beispiel hierfür sind die bekannten Arbeiten von Axel Honneth.
Honneth zufolge korrespondiert „der Erfahrung von Anerkennung ein Modus der praktischen Selbstbeziehung (…), in dem das Individuum sich des sozialen Wertes seiner Identität sicher sein kann“5. Anerkennung wird einem Individuum von außen zugesprochen oder versagt und dieser externe Akt ist entscheidend für das Selbstverständnis des Individuums. Nur dadurch gelingt es ihm, Selbstachtung zu entwickeln, also eine „positive Einstellung gegenüber sich selber, die ein Individuum dann einzunehmen vermag, wenn es von den Mitgliedern seines Gemeinwesens als eine bestimmte Art von Person anerkannt wird“6.
Dabei ist es wichtig, wofür man anerkannt wird: „Der Grad der Selbstachtung wiederum ist von dem Maße abhängig, in dem die Eigenschaften oder Fähigkeiten jeweils individualisiert sind, in denen das Subjekt Bestätigung durch seine Interaktionspartner findet“7. Etwas einfacher formuliert: Wenn man also anerkannt wird für etwas, das wenig mit der eigenen Persönlichkeit zu tun hat, eignet sich dies weniger als Quelle der Selbstachtung; die Eigenschaft oder Fähigkeit lässt sich kaum dem eigenen Tun zuschreiben. Die Staatsbürgerschaft beispielsweise kommt den meisten Menschen von Geburt aus zu; sie scheint jedoch kaum dazu geeignet, das einzelne Individuum auszuzeichnen; es hat sie in der Regel qua Geburt, ohne eigenes Hinzutun.
In der modernen Gesellschaft werden nach Honneth drei Sphären der Anerkennung wirksam, die institutionell verankert und damit – in unterschiedlichem Ausmaß – garantiert sind: Liebe, Recht und Leistung.8
Liebe bezieht sich auf das zwischenmenschliche Verhältnis der Liebesbeziehungen und Freundschaften; anerkannt wird eine Person hierbei durch emotionale Zuwendung, was auf der Ebene der Selbstbeziehung ihr Selbstvertrauen stärkt.
Das Recht als zweite Anerkennungssphäre hat sich erst in modernen liberalen Gesellschaften herausgebildet. In dieser werden Bürgerinnen und Bürger als gleiche und freie Menschen anerkannt, womit ein wechselseitiges Verhältnis von Rechten und Pflichten einhergeht. In dieser Sphäre gilt jeder als Träger irgendwelcher Rechte (…), wenn er als Mitglied eines Gemeinwesens gesellschaftlich anerkannt ist.9 Mit dieser Berechtigung gehen umgekehrt auch Pflichten der Staatsbürgerinnen und -bürger untereinander sowie gegenüber dem Gemeinwesen einher. Hinsichtlich dieser Rechte und Pflichten herrscht unter den Bürgerinnen und Bürgern radikale Gleichheit: Jeder und jedem kommt eine „vollwertige() Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen“10 ohne „Ausnahmen und Privilegierungen“11 zu.
Diese politischen Rechte auf Anerkennung mussten Zug um Zug auf soziale Rechte erweitert werden. „(Z)ur gleichberechtigten Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte“12 kann es nur kommen, wenn alle über die nötigen Voraussetzungen hierfür verfügen, wie bspw. Bildung oder ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit13. Aus dieser Erkenntnis – und dem Kampf zu ihrer Realisierung – entstand der Sozialstaat. Die soziale Absicherung dient also auch dem Menschen in seiner Rolle als Staatsbürger und damit der Demokratie als auf Partizipation ausgelegtes Gemeinwesen.
Die dritte Anerkennungssphäre der Leistung, oder auch Solidarität genannt, bezieht sich darauf, dass ein Mensch in seinen konkreten Fähigkeiten und Eigenschaften anerkannt wird, was in Begriffen wie sozialem Ansehen oder Prestige zu fassen ist. Als anerkannte Person ist sie Teil einer Wertegemeinschaft. Aus diesem Orientierungsrahmen gewinnen Gesellschaftsmitglieder Maßstäbe zur Beurteilung von Persönlichkeitsmerkmalen einzelner, „weil sich deren sozialer ,Wert‘ an dem Grad bemisst [sic], in dem sie dazu in der Lage erscheinen, zur Verwirklichung der gesellschaftlichen Zielvorgaben beizutragen“.14
Wer beispielsweise als Arzt arbeitet, genießt in der Gesellschaft höchstes Ansehen, da er mit seinen Fähigkeiten zum Wohl seiner Patientinnen und Patienten beiträgt, als gebildet gilt und hohe Steuern zahlt; ihm wird Leistungsfähigkeit, Disziplin, Bildung und Einsatz für das Gemeinwesen als Persönlichkeitsmerkmale und Werte zugeschrieben.
Das Kriterium des Beitrags zu gesellschaftlichen Zielen ist also wichtig zur Erfassung des Grades von Prestige, das einer Person zugesprochen wird: Inwiefern stellt deren Lebenswandel einen Beitrag zur Erlangung geteilter gesellschaftlicher Ziele dar?
Zumeist ist der Grad der Zuteilung von sozialem Ansehen „mit den Verteilungsmustern des Geldeinkommens auf indirekte Weise verkoppelt“15; so sind in der Regel bspw. diejenigen Berufsgruppen in der Frage der Anerkennung weit oben eingeordnet, in denen man auch gut verdient und umgekehrt.
Die drei Sphären erlauben die Analyse einer möglichen Verletzung der Anerkennung und trägt dazu bei, Interventionsmöglichkeiten genauer lokalisieren zu können.
Misshandlungen auf der Ebene der Liebe stellen eine Missachtung dieser Sphäre dar, wodurch u. a. die physische Dimension bedroht wird. Missachtungen auf der Ebene des Rechts können in Form der Entrechtung und Ausschließung vonstattengehen; in diesem Fall ist die soziale Integrität eines Menschen bedroht. Hinsichtlich des gesellschaftlichen Ansehens kann es zu Entwürdigungen und Beleidigungen kommen, die betroffene Person fühlt sich in ihrer Ehre und Würde angegriffen.
Diese drei Formen der Anerkennung sind auch im Kontext von Armut von allerhöchster Relevanz, da sie einerseits eine Ressource darstellen, auf die Menschen zurückgreifen können und andererseits im Falle der Missachtung zu einer Beschädigung des Selbstwertgefühles beitragen.
Honneth nennt sein Werk „Kampf um Anerkennung“, da Menschen gerade in der ersten und dritten Sphäre um ihre Platzierung in der Gesellschaft und um den Grad ihrer Anerkennung kämpfen müssen. Institutionell garantiert ist den Staatsbürgerinnen und -bürgern, dass sie politische Rechte und Ansprüche auf soziale Absicherung haben; Anerkennung in Liebes- und Freundschaftsbeziehungen sowie soziales Ansehen sind jedoch nichts, was einer Person an sich zukommt, sondern worum sie sich bemühen muss – und zwar unabhängig davon, ob sie von Armut bedroht ist oder nicht.
1 Dahrendorf, Ralf 1977: Homo Sociologicus. Opladen: Westdeutscher Verlag.
2 Tajfel, Henri 1978: Differentiation between social groups. studies in the social psychology of intergroup relations. Studies in the social psychology of intergroup relations. London/New York/San Francisco: Academic Press, S. 63ff., eig. Übersetzung.
3 Moscovici, Serge/Paicheler, Genevieve 1987: Social Comparison and Social Recognition: Two complementary processes of identification. In:
Tajfel, Henri (Hg.) 1978: Differentiation between social groups. studies in the social psychology of intergroup relations. Studies in the social psychology of intergroup relations. London/New York/San Francisco: Academic Press, S. 251- 266, S. 254.
4 Festinger, Leon 1954: A theory of social comparison processes. 7.Jg., 2/1954, S. 117-140, S. 118, eig. Übersetzung.
5 Honneth, Axel 2021: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 11. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 127.
6 Ebd., S.127.
7 Ebd., S. 127f.
8 Ebd., S. 211.
9 Ebd., S. 176.
10 Ebd., S. 187.
11 Ebd., S. 187.
12 Ebd., S. 189.
13 Ebd., S. 189.
14 Ebd., S.198.
15 Ebd., S. 206.
Bei der Analyse der Interviews war die erkennbare „Beschämung“ der Armutsbetroffenen ein auffälliges und durchgängiges Muster. Im Folgenden wird dieser Spur intensiver nachgegangen. Zunächst geht es darum, ein Bild von diesem Gefühl der Scham in unterschiedlichen Lebensbereichen zu vermitteln, um anschließend die fehlende Selbstwirksamkeit als Bindeglied zwischen Scham und dem mangelnden Selbstwert aufzugreifen. Bevor wir in der Analyse fortschreiten, noch eine Anmerkung: Angesichts des Trends des Manifestierens, des positiven Mindsets etc. im Internet und den Sozialen Medien müssen wir einem möglichen Missverständnis vorgreifen: Zwar beschäftigen wir uns hier fast ausschließlich mit der Denkweise vieler Armutsbetroffener. Damit soll jedoch nicht gesagt werden, dass diese nur ihr Mindset ändern müssten, um ein besseres, erfüllteres Leben zu haben. Wie am Ende des Kapitels dargestellt wird, beruhen Scham, Rückzug und Selbstwertverlust auf realen gesellschaftspolitischen Gegebenheiten, die nicht durch eine „positives Mindset“ bekämpft werden können. Dass Armut im Ausgangspunkt ein materielles Problem ist, soll auch durch dieses Kapitel nicht negiert werden.
In den Interviews mit den Expertinnen und Experten dieses Berichts wurde Armut und Scham regelmäßig zum Thema gemacht. Scham kann als Folge der sozialen Ausgrenzung betrachtet werden, die mit Armutsbetroffenheit häufig einhergeht. Auch in den Betroffeneninterviews wird Scham thematisiert, jedoch seltener und teilweise auch lediglich implizit: Wer sich schämt, wird kaum gerne offen darüber sprechen. Unseren Ergebnissen zufolge betrifft die Scham sowohl einzelne Bereiche des Lebens als auch die allgemeine Frage der Zuschreibung „arm“ zu sein. Bestimmte Gruppen der Armutsbetroffenen scheinen sie stärker zu empfinden als andere, wie noch darzustellen sein wird.
Scham äußert sich beispielsweise bei vermeintlich banalen Dingen wie dem Café-Besuch: „Die genieren sich, weil sie nicht viel Geld haben. Wenn du dir nicht viel kaufen kannst, dann kannst du ja nicht jedes Mal (…) zum Kaffee, den du dir auch leisten kannst“ (Frau E, Pos. 92).
Herr O beschreibt am Beispiel seines Sohnes, wie schon in der Schule diejenigen Ausgrenzung erfahren, denen z. B. bezüglich Kleidung kein Zeigen von Statussymbolen möglich ist: „(D)a fängt natürlich dann schon die Ausgrenzung in der Schule natürlich an, hey, du hast das, du hast die Kleidung, da wird natürlich dann auf die Markenklamotten Wert gelegt, ich meine, das werden sie vielleicht auch noch kennen, wenn man natürlich darauf geachtet wird, hey, der hat die Schuhe und der andere hat das vielleicht nicht so“ (Herr O, Pos. 28).
Armutsbetroffene schämen sich also, weil sie durch ihre Kleidung – zumindest in ihrer Selbsteinschätzung – als nicht-zugehörig und arm identifiziert werden können. Hier kommt die dritte Anerkennungssphäre nach Honneth ins Spiel: Die Interviewten gehen davon aus, dass man ihnen ihr geringes soziales Prestige unmittelbar ansieht. Dieses Stigma der Armut, das vielen ihrer eigenen Wahrnehmung nach anhaftet, hemmt die Betroffenen. Armut wird als sichtbar erlebt, sei es eben über Kleidung oder z.B. über den Zustand der Zähne.
Stigmata sind in der Soziologie Abweichungen von sogenannten „Normalitätsdispositiven“, also eine Abweichung von einer gesellschaftlich festgelegten Form von Normalität. Einer der Klassiker der Stigmatheorie ist Erving Goffman. Er definiert Stigma wie folgt: „Eine Person erhält ein Stigma, wenn sie […] in unerwünschter Weise anders [ist], als wir es antizipiert hatten. Uns und diejenigen, die von den jeweils in Frage kommenden Erwartungen nicht negativ abweichen, werde ich die Normalen nennen.“16
„Mir hat das eine mal gesagt in der Norma, die kann die Armut auch riechen oder sehen, weil die Leute haben dann auch schlechte Zähne oder können die es dann nicht mehr erneuern und es kostet alles was. Es gibt ja dann auch Zuzahlungen in der Zahnmedizin, das geht dann eben halt nicht mehr“ (Herr I, Pos. 41).
Scham führt dazu, dass Menschen sich zurückziehen. Ein Beispiel liefert Frau A:
Frau A: „Und dann am 14. habe ich eine Karte gekriegt für die Schlossfestspiele. Und da geht aber jemand mit, weil alloa trau i mi da gar nicht hingehen.“
Schildbach: „Warum?“
Frau A: „Des trau i mi ned.“
Schildbach: „Aber warum? Was ist da?“
Frau A: „Naa, weil mir irgendwie scham.“ (Frau A, Pos. 59-63)
Sie fühlen sich nicht zugehörig zu den „Reichen“ (Frau A, Pos. 69), die dort sind. Daraus ergibt sich ein weiterer sozialer Ausschluss (Frau A, Pos. 59-63).
Viele nehmen deswegen auch keine Angebote zur Unterstützung an, wie ein Experte berichtet, „weil da sofort getuschelt wird, Gott, ja.“ (ZG GD, Pos. 9)
„Wenn sie arm wären, würden sie sich schämen, das zu sagen. Und genau so ist es. Das sagt man nicht. Dass man bedürftig ist, dass man Hilfe braucht. Das wäre eins mit den schlimmeren Sachen, wenn meine Eltern Wohngeld oder irgendetwas bräuchten. Hartz IV, das war mal Thema bei uns in der Familie, der Vater hat verzichtet. Hat gesagt, nein. Und wenn das dann heißt, mein Haus, was ich mir mühsam aufgebaut habe, verkaufen, damit ich 2,50 Euro vom Staat kriege, danke nein. Die genieren sich“ (ZG SRI2, Pos. 101).
Auffällig ist hier auch ein Widerspruch: Viele Personen bestreiten im Interview einerseits, arm zu sein, sprechen andererseits aber von ihrer in der Armut begründeten Scham. Sie schämen sich also für die Armut, von der sie laut eigener Aussage nicht betroffen sind. Hier scheint es sich um einen innerlich vorgenommenen Vergleich mit anderen Personen zu handeln, dessen Resultat das vermeintliche Scheitern an gesellschaftlichen und eigenen Maßstäben ist. Das Ergebnis leugnet man, negiert die eigene Gruppenzugehörigkeit, kann es andererseits nicht abstreifen, sodass sich diese scheinbar paradoxen Aussagen ergeben. Dies äußert sich wie gesagt auch im Sprechen in der dritten Person in den Interviews.
So auch zum Beispiel ein Armutsbetroffener, der von den „anderen“ spricht, als er sich auf die Warteschlange an der Lebensmittelausgabe bezieht: „Die schämen sich halt viele, ne? Das ist ja das nächste, ne? Viele schämen sich halt auch, sich da anzustellen, ne? Sich dann selbst eingestehen, hoppla, ich brauch Hilfe von irgendwem. Gibt’s auch genügend, ne?“ (Herr J, Pos. 44).
Der Zusammenhang von Armutsbetroffenheit und Scham geht sogar so weit – wie von Expertinnen und Experten berichtet wird –, dass die Selbst-Attribuierung als „arm“ abgelehnt wird. Und dies, obwohl die Orte, an denen die Betroffenen-Interviews durchgeführt wurden, nämlich die Tafel und die Rengschburger Herzen, ganz offensichtlich vom Gegenteil zeugen.
Herr O bezeichnet Armut als „Definitionssache“ und setzt Armut in Deutschland ins Verhältnis zu Armut in anderen Ländern (Herr O, Pos. 26). Auch Frau B setzt ihre Situation in den globalen Kontext (Frau B, Pos. 71) und nimmt im Vergleich dazu auch bei sich selbst einen „Überfluss“ wahr, weil sie Kleidung und Schuhe besitzt, die sie nicht braucht (Frau B, Pos. 77). Dabei zeugen die Relativierungen selbst häufig vom Gegenteil: „Ich brauche von Stadt diese Wohnung. Nichts Teures, ne. Ein Zimmer ist genug für mich“ (Herr K, Pos. 7), so Herr K. „Mir reicht es. Ich brauch nicht mehr, mir reicht’s. In Urlaub fahre ich nicht. Mir reichts“ (Frau V, Pos. 90), bekräftigt Frau V.
Eine türkischstämmige Rentnerin, die Jahrzehnte am Fließband gearbeitet und drei Kinder großgezogen hat, führt aus: „Ja gut, wenn ich Sozialhilfe nehme, wird alles vom Sozialamt bezahlt. Habe gesagt, ich will nicht Stadt Last sein, wo Kinder klein waren, ich war alleine Erziehende mit drei. Habe ich genug bekommen, jetzt soll andere Muttis holen, was ich habe, alles mehr genug“ (Frau Z, Pos. 38).
Dass sich Arme häufig oder meistens also gar nicht als solche empfinden, auf ihre Mittellosigkeit zudem mit Bescheidenheit antworten, erscheint erstaunlich, verhindert aber auch die Entstehung eines Gruppenbewusstseins.
Eine Annäherung an das Gefühl der Scham bietet der Psychoanalytiker Erikson:
„Der sich Schämende nimmt an, daß [sic] er rundherum allen Augen ausgesetzt ist, er fühlt sich unsicher und befangen. (…) Es handelt sich dabei aber wohl um einen gegen das Ich gekehrten Zorn. Der Schamerfüllte möchte vielmehr die Welt zwingen, ihn nicht anzusehen oder seine beschämende Situation nicht zu beachten“17.
Das Zitat, obwohl von Erikson auf Kinder bezogen, enthält viele Momente dessen, was auch anhand der Interviews deutlich wurde: Menschen, die sich schämen, fühlen sich subjektiv von allen anderen beobachtet, man die Armut „riechen oder sehen“ kann. Diese Sichtbarkeit, das Gefühl nicht der Norm zu entsprechen, führt zu Zorn gegen sich selbst. Das Gefühl der Scham, von der wir hier sprechen stellt ein Innenverhältnis dar: Ich entspreche nicht dem Bild, das ich von mir habe, weswegen ich mich auch vor mir selbst schäme. Das „Subjekt, das sich im Erlebnis des Rückschlags seines Handelns seiner selbst schämt, erfährt sich als von geringerem sozialem Wert, als es vorgängig angenommen hatte“18. Angegriffen ist also der Selbstwert als Mitglied der Gesellschaft.
Das Gefühl, aufzufallen, muss dabei nicht den Tatsachen entsprechen. Dabei ist das Gefühl des Auffallens und der daraus abgeleitete Wunsch, vor den Blicken der anderen unsichtbar zu werden spielt sich in der Wahrnehmung der Betroffenen ab. Armutsbetroffene denken bzw. glauben zu wissen, dass sie den gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen.
Es wird deutlich, wie komplex das Gefühl der Scham ist: einerseits ein Innenverhältnis, insofern man sich selbst Versagen zuschreibt, gemessen an der Vorstellung, die man von sich selbst pflegt. Andererseits ist Scham immer bezogen auf andere, also „soziale Scham“19. Eine Expertin bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Nehme ich da (an einer Veranstaltung, I. S.) teil, wie nehmen mich die anderen wahr, da passiert glaube ich sehr viel innerlich“ (SR SenA, Pos. 10).
Alle Menschen eint der Versuch, Anerkennung zu erlangen. Armutsbetroffene sind damit konfrontiert, dass eben dieses Bemühen scheitert, sodass sie auf wenig oder keine Quellen der Anerkennung zurückgreifen können. Insofern zeigen unsere Interviews deutlich, dass innerlich sehr viel passiert – was genau und welche Elemente der Ich-Identität dadurch betroffen sind, soll im Folgenden näher betrachtet werden.
In den letzten Absätzen wurde geschildert, wie Betroffene die eigene Armut definieren und wahrnehmen. Ergänzend hierzu forschte Laura Holler in ihrer Masterarbeit zum Armutsverständnis weiterer Bürgerinnen und Bürger in Regensburg.
Laura Holler
Was wir über Armut sowie Armutsbetroffene glauben und erzählen und wie wir Lösungsansätze denken, kann in liberalen Demokratien zu Teilen die Ausgestaltung der Sozialpolitik und des Sozialrechts beeinflussen. Um zunehmenden Verteilungsungleichheiten sowie Verfestigungstendenzen zu begegnen, gibt diese Arbeit Meinungen über Armut, Armutsbetroffene und Sozialstaat wieder – hier: von sechs Personen aus Regensburg mit verschiedenen sozioökonomischen Hintergründen.
Aus den Ergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass ein Großteil der Befragten über ein mehrdimensionales Verständnis von Armut verfügt, welches sich stellenweise wissenschaftlichen Konzepten und Erkenntnissen annähert. Armut wird als Lebenswirklichkeit mit multiplen, materiellen und sozial-kulturellen Einschränkungen begriffen, die sich auf Teilhabemöglichkeiten und Handlungsspielräume auswirken. Als besonders unterstützungswürdig werden Menschen in Not- und Belastungslagen erachtet, die außerhalb der Kontrolle der Betroffenen liegen (v.a. Krankheit und andere Schicksalsschläge). Als nicht unterstützungswürdig gelten Personen, die selbstverschuldet in Armut geraten sind, worunter die Befragten mehrheitlich eine bewusste, provozierte Form der Erwerbslosigkeit verstehen. Das Ausmaß derer, die Arbeit gänzlich verweigern, scheint in Anbetracht der Datenlage tendenziell überschätzt zu werden. Das gängige Narrativ „Jeder ist seines Glückes Schmied“ sowie die Überzeugung von der Existenz einer selbstverschuldeten Armut scheint zwar im Denken der meisten Befragten vorhanden zu sein; diese Überzeugungen gerieten bei den meisten Befragten durch den im Interview angestoßenen Denkprozess jedoch zunehmend ins Wanken. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass unterkomplexe Auffassungen von Armut und Armutsbetroffenen in Form von negativen Assoziationen mit Schuld, Faulheit und Unzulänglichkeiten neben einem generellen Ungerechtigkeitsempfinden und dem Verständnis gegenüber weniger privilegierten Lebenslagen nebeneinander existieren. Systemische Aspekte und Barrieren, die Armut und Arbeitslosigkeit bedingen, blieben eher unterbelichtet.
16 Goffman, Erving 1998: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 13.
Zum Begriff des Normalitätsdispositiv:
Karadoff, Ernst von 2009: Goffmans Stigma-Identitätskonzept – neu gelesen (https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/978-3-531-91442-8_5.pdf?pdf=inline%20link; Zugriff: 04.02.2025.
17 Erikson, Erik H. 1995: Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 246f.
18 Honneth, Axel 2021: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 11. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 223.
19 Honneth, Axel 2021: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 11. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 219.
Armutsbetroffene müssen aus ihrer Sicht häufig als Bittsteller auftreten und ihre Armut geht oftmals mit Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, Frühverrentung oder dem Bezug einer zu kleinen Rente einher. In den Interviews wird immer wieder deutlich, dass sie deswegen aus ihrer Sicht bevormundet werden, darum kämpfen, ernst genommen zu werden und häufig an fehlender Selbstwirksamkeit leiden.
In zahlreichen Interviews finden sich Äußerungen dazu, dass die Befragten keine Bevormundung wünschen. So sagt z. B. Frau A, dass in der Stadt Sozialarbeitende fehlen, die bei dem Erledigen von „Papierkram unterstützen“ und fügt hinzu: „Weil deswegen brauchen wir ned glei an Betreuer. Wissen Sie so“ (Frau A, Pos. 148). Auch für Herrn K ist es wichtig, dass ihm zugetraut wird, sich selbst zu helfen. Er erzählt, dass er „alles alleine erledigt“ hat (Herr K, Pos. 77) und auf die Frage, was er sich wünsche, antwortet er: „Ich wünschen, gute Arbeit diese Frau mir geben und dann gut, ne? Ja. Rest ich selber, ich bin nichts behindert“ (Herr K, Pos. 146).
In unseren Interviews ist dieser Aspekt der geringen Selbstwirksamkeit vor allem im Kontext von Beschäftigung zu beobachten. Arbeit ist nicht nur Broterwerb. Wenn Erwerbsarbeit fehlt, erleben Betroffene Langeweile (Frau V, Pos. 86-88) und Eintönigkeit. Es fehlt ihnen ein Grund, das Haus zu verlassen, es fehlen Kontakte in der Arbeitsstelle, was zu einer weiteren Ausgrenzung und Isolation führt (Herr O, Pos. 22). „Und dadurch, dass man halt eigentlich den ganzen Tag zu Hause ist und nichts zu tun hat, wirkt sich das halt auch auf die Psyche aus, denke ich“ (Herr L, Pos. 48).
Hierin drückt sich aus, dass Arbeit nicht nur die Bedeutung einer Tätigkeit zum Zwecke des Gelderwerbs hat, sondern für viele Menschen mit weitergehenden Erwartungen verknüpft wird. „Was man daraus ziehen kann“, ist im Idealfall eben nicht nur Geld, sondern Arbeit kann auch ein Feld der Selbstwirksamkeit sein, indem etwas für die Gesellschaft Notwendiges und auch für sie und sich selbst Sinnvolles geleistet wird. Bestenfalls wird sie dadurch zu einer Sphäre der Anerkennung, die sich auch in gesellschaftlichem Ansehen auszahlt.
So hat Herr O als Arbeitsloser das Gefühl, „auf […] Kosten“ (Herr O, Pos. 24) von anderen zu leben und auch Herr J erzählt, dass sich Menschen besonders schämen, wenn sie ihre Arbeit verlieren; vor allem Arbeits- und Wohnungslosigkeit seien schambehaftet (Herr J, Pos. 48). Im Extremfall führt die fehlende gesellschaftliche Rolle dazu, dass der Tag jegliche Struktur und jeglichen Sinn verliert.
Diese Effekte zeigte bereits die klassische Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda und Lazarsfeld. Neben dem Gelderwerb hat Erwerbsarbeit wichtige weitere Funktionen: „Sie gibt dem wach erlebten Tag eine Zeitstruktur; sie erweitert die Bandbreite der sozialen Beziehungen über die oft stark emotional besetzten Beziehungen zur Familie und zur unmittelbaren Nachbarschaft hinaus; mittels Arbeitsteilung demonstriert sie, dass die Ziele und Leistungen eines Kollektivs diejenigen des Individuums transzendieren; sie weist einen sozialen Status zu und klärt die persönliche Identität; sie verlangt eine regelmäßige Aktivität“20. Deswegen führt Arbeitslosigkeit zum Leiden an mangelnder Selbstwirksamkeit und Sinn.21
Das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit in Form der Selbsthilfe kann auch dazu führen, dass Menschen keine externe Unterstützung annehmen. So meint Frau V: „Man muss ein bisschen selber machen, was man kann. Aber immer weiter, dass mir der hilft, dass mir der hilft. Das geht auch nicht“ (Frau V, Pos. 75). Diese Einstellung kann die Annahme von Hilfe zwar erschweren, zugleich kann diese Haltung aber auch als persönliche Ressource und Teil ihrer Bewältigungsstrategie betrachtet werden. Frau V möchte sich nicht in eine passive Position begeben und sie zeigt eine hohe Selbstwirksamkeit: „Ja, ja, muss man sich immer selber was ausdenken, was machen, nicht sitzen, so denk ich immer“ (Frau V, Pos. 77). Nicht rasten, „nicht sitzen“, sondern findig sein, „sich immer selber was ausdenken“, stellt bei vielen Armutsbetroffenen ein typisches Bewältigungsmuster dar.
Andere resignieren allerdings auch. Dies äußert sich darin, dass Betroffene aufgeben, wie Herr J beschreibt. Er müsse aufpassen, dass er nicht „abstumpft“ (Herr J, Pos. 20). Auch bei Herrn Z ist Resignation zu erkennen, seine Situation würde ihn „maximal“ belasten und das „Leben im Allgemeinen“ sei eine Quelle von Stress; er habe aber „keine Ahnung“, was ihm helfen könnte (Herr Z, Pos. 17-26).
Herr J bestätigt diese Ergebnisse und weist darauf hin, dass es nur helfen würde, wenn Betroffene es sich wert sind, um sich selbst zu kämpfen. Auch Herr Y fordert von sich selbst, zu kämpfen: „Aber aufgeben kann ich nicht. Das ist die einzige Option. Ich kann nicht rumheulen und nichts machen. Das toleriere ich nicht, so ein Verhalten. Das geht nicht. Das ist halt so, irgendwie geht es schon weiter. Muss ja kämpfen“ (Herr Y, Pos. 26). Das „Kämpfen“ gehört also zum Selbstbild dieser Personen. Nur durch die Aufrechterhaltung des „Kämpfens“ gegen den aktuellen sozialen Status bleibt ein Mindestmaß an Selbstachtung erhalten.
Es finden sich in den Interviews auch optimistische Einstellungen. Um Wege zu finden, seien aber gewisse persönliche Voraussetzungen wie Kreativität und eine Einstellung, bei der Menschen nicht aufgeben, notwendig: „(D)ie Flügel nicht hängen lassen“ ist das Wichtigste (Herr I, Pos. 51). Frau X sieht rückblickend schwierige Phasen auch als Möglichkeit, zu lernen (Frau X, Pos. 90). Die Perspektive, die Menschen einnehmen, hat also einen großen Einfluss darauf, wie sie Erlebtes bewerten und welche Handlungsoptionen sie für sich sehen können.
Neben dem „Kampf“ findet sich auch eine Grundhaltung der Bescheidenheit: Viele Befragte bekräftigen, dass sie gar nicht mehr bräuchten – ein Zimmer, aber keine „Luxusdinge“ – wie einen Urlaub. Auch dies scheint eine Bewältigungsstrategie zu sein, um den Zweckoptimismus aufrecht zu erhalten. „Ich kenne es nicht anders, ich bin ja halt auch als Kinder gewohnt, wir sind nicht so anspruchsvoll wie die Jüngeren, die jetzt da sind“, erläutert Frau S (Frau S, Pos. 6). Die eigene Bescheidenheit im Vergleich zur jüngeren Generation wird so zum Mittel der Selbstaufwertung: Man selbst hat zwar nicht viel, ist damit aber zufrieden.
Einen Sonder- und zugleich Extremfall stellen in diesem Kontext Geflüchtete dar: Sofern ihnen Arbeit rechtlich noch verboten ist, sind sie per definitionem aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen. Dies wird von in der Flüchtlingsarbeit Tätigen als großes Problem betrachtet:
„Und dann müssen die Leute dann zu ihrem Glück auch, zumindest mehrheitlich, die meisten wieder in Arbeit bringen, in Tätigkeit bringen, sei es ehrenamtlich oder, weil sonst passiert da auch nichts mehr und dann verliert die Person, die Familie, die Gesellschaft und am Ende sind die Leistungen dann auch nicht mehr zu zahlen“ (ZG SE, Pos. 38).
Wenn Menschen von jeglicher Arbeit – ehrenamtlicher wie Erwerbsarbeit – ausgeschlossen sind, verlieren alle: die Gesellschaft und auch die einzelne Person und ihre Familie. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass ein Regensburger Verein zur Integration Geflüchteter, Migrantinnen und Migranten selbst in das von ihnen aufgebaute Hilfesystem aktiv einbindet:
„Wir sind der Überzeugung, dass die Gäste bei uns sich mit in die Gesellschaft einbringen müssen. Also zum einen integrieren müssen, zum anderen aber einfach mitarbeiten müssen in der Gesellschaft. Dass es ganz wichtig ist, um eine einigermaßen gute Gesellschaft zu behalten. Und jetzt ist es so, dass bei uns die Ausgabe tatsächlich fast nur Ukrainer machen?. Also Ukrainer für Ukrainer oder Ukrainer für Ausländer. Und das ist sehr, ja, sehr gut“ (ZG SE, Pos. 6).
Tatsächlich organisieren mehrere Vereine und Initiativen ihre Tätigkeit auf diese Weise: Wer Hilfe empfängt, gibt auch Hilfe, sodass die Menschen das Gefühl des Gebraucht-Werdens erfahren und keine rein passive Rolle einnehmen.
20 Jahoda, Marie 1983: Wieviel Arbeit braucht der Mensch? Arbeit und Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert. Weinheim: Beltz, S. 136.
21 Ebd., S. 137.
Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul F./Zeisel, Hans 1975: Die Arbeitslosen von Marienthal. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Jahoda, Marie 1981: Work, employment, and unemployment: values, theories, and approaches in social research. In: American Psychologist, 36.Jg., 2/1981, S. 184-191.
In psychologischen Konzepten und Studien finden sich viele Hinweise darauf, dass Selbstwirksamkeit im Allgemeinen zentral ist für Menschen, um einen stabilen Selbstwert aufzubauen. Fehlt diese, kann es zu einem beschädigten Selbstwertgefühl und Sinnverlust kommen.
Die hier vertretene These besagt, dass Armutsbetroffene Gefahr laufen, ein prekäres Verhältnis zu ihrer sozialen Identität zu entwickeln, das bis zum Verlust dieser Identität reichen kann. Arme als Gruppe scheinen vor allem als ein von außen als solches wahrgenommene Kollektiv zu existieren. Dabei rutschen Menschen aus unterschiedlichen Gründen in die Armut ab: Alleinerziehende, Frühverrentete, Obdachlose, Arbeitslose, Suchtkranke und andere weisen unterschiedlichste Problemlagen auf, es gibt unzählige Ursachen dafür, in der „Gruppe“ der Armen zu landen.
Während Scham zunächst situativ auftritt, als „Angst vor der sozialen Degradierung oder, allgemeiner gesagt, vor der den Überlegenheitsgesten Anderer“22, kann mangelnder Selbstwert „zu einem prinzipiell negativen Urteil über die eigene Person werden: Ich versage permanent vor meinen Ansprüchen, kann also nichts, werde nicht gebraucht und (vermeintlich) gesellschaftlich geächtet, bin also nichts wert.
Ein Betroffener, der zugleich auch als Ehrenamtlicher tätig ist, bringt dies wie folgt zum Ausdruck:
„Wenn wir jetzt, um wieder auf Ihr Thema zurückzukommen, mit diesem monetären, mit diesem materiellen Aspekt mal weggehen, der bedrückend genug ist, wenn sich die Frage stellt, wenn ich ein neues Paar Schuhe brauche, wie kaufe ich am Monatsende was zu essen, es ist auch die Frage, wie gehe ich mit meinem Leben um, was mache ich aus meinem Leben, es ist eine Frage von Selbstwert. Und es ist auch etwas, was ich regelmäßig auch in der Selbsthilfe …mitkriege, dass Armut einen gewaltigen Verlust von Selbstwert mit sich bringt. Man fühlt sich, ganz flapsig gesagt, nutzlos, wertlos, man ist nicht mehr Teil eines produktiven Systems.“ (ZG K, Pos. 26)
Alle zuvor besprochenen Aspekte finden hier ihren Niederschlag: Man fühlt sich selbst wertlos und gleitet in die Resignation, weil man den eigenen Erwartungen, den Produktivitätsvorstellungen der Gesellschaft, nicht entspricht.
Die von uns interviewten Personen wurden alle bei caritativen Lebensmittelausgaben befragt, sie sind von starker Armut und teilweise von gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen. Welche alternativen Quellen der Anerkennung können sie für sich nutzen? Hier finden sich im Material des Projekts nur wenige Passagen:
Schildbach: „Würden Sie sich als arm bezeichnen?“
Frau B: „Eben nicht. Gesunde Enkel, toll, die können rennen“ (Frau B, Pos. 90-91).
Ein ähnlicher Wechsel der Perspektive findet sich auch bei Frau X, wenn sie Gesundheit als das wichtigste Gut benennt und fragt: „Was nützt viel Geld?“ (Frau X, Pos. 106).
Eine ältere Russlanddeutsche Dame gibt beim Ausfüllen unseres Fragebogens an, dass sie nichts bräuchte, um ihre Situation zu verbessern, da „Gott es schon richtet“. Hier ist also der Glauben die wichtigste Stütze des Selbstwertes.
Wie bereits gesagt, steht nicht allen eine alternative Quelle der Anerkennung zur Verfügung. Viele der befragten Personen sind schon lange von Armut betroffen und häufig scheint kein Bereich des Lebens zu verbleiben, um eigene Selbstwirksamkeit zu erfahren. Dies können Auslöser einer existenziellen Selbst-Krise sein.
Wie Jugendliche Armut und den daraus resultierenden fehlenden Selbstwert kompensieren, untersucht Stefan Harrer in seiner Bachelorarbeit.
Stefan Harrer
Die Zahl der in Deutschland von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen stieg zuletzt an, wobei eine Armutsbetroffenheit im Kindes- oder Jugendalter mit Auswirkungen auf die Entwicklung und Sozialisation der Betroffenen einhergeht. Direkte Folgen der Armutsbetroffenheit sind mitunter Stigmatisierungen, Segregation sowie soziale Ausgrenzung und infolgedessen eine fehlende Anerkennung durch andere Gesellschaftsmitglieder. Im Jugendalter aber ist es wichtig, Anerkennung zu erfahren, besonders von Seiten der Peergroup. Jugendliche, die keine Anerkennung oder gar soziale Ausgrenzung erfahren, versuchen unter bestimmten Umständen, dies durch Kriminalität zu kompensieren. Auch die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen stieg zuletzt an.
Die Sozialisation im Jugendalter kann aufgrund verschiedener Veränderungen, die Jugendliche in diesem Alter durchlaufen, stark heraus- oder gar überfordernd wirken. Die Entwicklung wird maßgeblich beeinflusst von unterstützenden Faktoren, wie dem sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapital, über welches die Jugendlichen selbst oder aber deren Eltern verfügen. Weiterhin bedeutend für die Entstehung von Jugenddelinquenz sind der Erfahrungsspielraum, der einem Jugendlichen zur Verfügung steht, sowie die Gesellschaft, innerhalb derer sich ein Jugendlicher bewegt. Besonders der Stellenwert ökonomischen Kapitals, um Anerkennung von Seiten anderer Gesellschaftsmitglieder zu erhalten, ist hier hervorzuheben.
Mithilfe dieses theoretischen Hintergrunds und qualitativer Interviews, die mit vier delinquenten, kriminellen und zumindest in Teilen von Armut betroffenen Jugendlichen geführt wurden, konnte ein partieller kausaler Zusammenhang zwischen der Betroffenheit dieser Jugendlichen von Armut und deren delinquenten und kriminellen Handlungen hergestellt werden.
Menschen, die sich selbst minderwertig fühlen, versuchen in manchen Fällen, diese Empfindung durch die Abwertung anderer zu bekämpfen. Eine Möglichkeit ist die nationale Zugehörigkeit als Quelle der Anerkennung und Aufwertung der eigenen Stellung – dies zeigte sich auch in Teilen unseres Interviewmaterials. Verbunden war dies gleichzeitig mit der Abwertung anderer Nationalitäten. Es sei an dieser Stelle nochmals darauf verwiesen: Die Ergebnisse der qualitativen Studie sind nicht repräsentativ und es ist an keiner Stelle unsere Intention, Armutsbetroffene pauschal als fremdenfeindlich zu bezeichnen. Dennoch sollen diese Äußerungen nicht unerwähnt bleiben.
Zumeist stehen diese Aussagen im Kontext einer vermeintlichen Besserstellung der Migrantinnen und Migranten. Diese würden angeblich ungerechtfertigterweise profitieren, während die eigene Gruppe, die der Deutschen, zu kurz käme.
So beklagt ein Obdachloser in Bezug auf bezahlbaren Wohnraum, dass dieser zwar vielleicht vorhanden sei, „(a)ber das kriegt als erstes Ali und dann ich. Und ich denke: Wir haben einfach zu viele Menschen“ (Herr Y, Pos. 48).
Auch Frau U beklagt, dass Menschen mit Migrationshintergrund die Deutschen bei der Tafel vertrieben hätten: „Also, es sind leider Gottes mehr Ausländer, weil Deutsche fast nicht mehr kommen“ (Frau U, Pos. 10) „Und, ähm, naja, also die meisten können halt kein Deutsch mittlerweile. Also, und die Deutschen kommen auch gar nicht mehr, weil, weil halt die untereinander (die unterschiedlichen Nationalitäten I. S.) sehr aggressiv teilweise sind“ (Frau U, Pos. 6).
Die vermeintliche Übervorteilung auf dem Wohnungsmarkt und bei der Lebensmittelausgabe wird generalisiert: „Entschuldigen Sie, wenn ich das jetzt sage, ich habe nichts gegen Ausländer und sonst irgendwas, aber die kriegen alles“ (Frau R, Pos. 24), ohne, dass sie eigentlich darauf angewiesen wären: „Die kommen, die haben die größten Smartphones, die haben alles, unsere haben kein Smartphone, weil wir es uns nicht leisten können, ja“ (ebd.).
Auch Herr Ö klagt über „Sozialschmarotzer“: „(E)s gibt Leute, die wollen in Afrika unser Kindergeld“ (Herr Ö, Pos. 8). Ihm zufolge wird das Sozialsystem von Migrantinnen und Migranten ausgenutzt: „Warum kommen so viele Flüchtlinge zu uns? Weil wir so ein gutes Sozialsystem haben oder weil es bei uns so schön ist?“ (ebd.).
Herr Ö beklagt also Verhalten und das ungerechtfertigte Anspruchsniveau der Asylbewerber. Das System werde ungerechtfertigterweise ausgenutzt und die Deutschen mit ihnen auf eine Stufe oder sogar schlechter gestellt.
Interessanterweise wird in zwei Interviews mit Menschen mit Migrationshintergrund im Umkehrschluss die Aussage getroffen, dass man bestimmte Angebote nicht wahrnehme, weil diese wohl nur für „Deutsche“ seien (Frau X und Herr H).
Bei allen Interviewten, die sich dem deutschen „Wir“ zurechnen, scheint verbissen auf die zweite Sphäre der Anerkennung, nämlich die ganz grundsätzliche Anerkennung und Berechtigung als Mitglied des Staatsvolkes, bestanden zu werden: Als Deutsche müsste man doch eigentlich einen besseren Status haben als „die Ausländer“.
Wo die eigene Gruppe also negativ attribuiert wird, aber ein Entkommen aus dieser nicht möglich ist, ist eine nationalistische Denkweise anscheinend ein Mittel zur Verarbeitung der Minderwertigkeitsgefühle. Die eigene Identität wird darüber geschützt, dass man den Fokus weg von der negativen hin zu derjenigen Gruppe verschiebt, die positiv attribuiert ist und einem außerdem das Gefühl des Vorrechts gegenüber anderen vermittelt.23
Diese Strategie des Umgangs mit den eigenen Selbstwert-Problemen bedeutet jedoch nicht, dass diese am Ende aufgelöst werden können. Sich als Person mit deutscher Staatsangehörigkeit mit (Vor-)rechten zu identifizieren und andere abzuwerten, kann zwar eine wichtige Quelle des Selbstwerts sein, hat aber eine Limitierung: Menschen schöpfen vor allem Selbstwert aus Anerkennung, die ihren Ursprung in tatsächlichen oder vermeintlichen ihnen zurechenbaren Leistungen hat.
Die Staatsangehörigkeit jedoch stellt bei den als deutsch Geborenen keine individuell erbrachte Leistung dar, die man sich zuschreiben könnte. Man hat sie qua Geburt. Allein daran wird ersichtlich, dass diese Strategie des Umgangs mit der erfahrenen gesellschaftlichen Verletzung kaum dazu geeignet ist, das Gefühl der Minderwertigkeit tatsächlich erfolgreich zu bekämpfen24.
Neben Ausdrücken des Ressentiments gab es auch gegenteilige Meinungen, einer der Interviewten wählt einen radikal anderen Bezugspunkt:
„Also es wäre gut, wenn die Stadt was gegen die allgemeine Stimmung macht, die irgendwie die Asylbewerber und die Niedriglohnarbeiter und Hartz IV und so alle gegeneinander ausspielt. […] Sondern darauf aufmerksam machen würde, wo eigentlich das Geld herkommen könnte, damit wir alle gut leben könnten und das wäre halt eher von oben, anstatt von unten wegzunehmen“ (Herr L, Pos. 74).
Tatsächlich finden sich solche Aussagen selten im Interviewmaterial: Herr L verortet sich offenbar allgemein in einer Gruppe mit wenig sozialem Prestige, zu der Asylbewerber, Niedriglohnarbeiter und ALG-II-Bezieher gehören. Statt untereinander Vorurteile zu kultivieren, sollte man seiner Ansicht nach eher eine Gruppenidentität herausbilden, den Blick „nach oben“ richten und eine stärkere Umverteilung einfordern.
22 Elias, Norbert 2021: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 28. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 398, Hervorh. I. S.
23 Die Ergebnisse der Mitte-Studie, in der unter anderem ausländerfeindliche und rassistische Stereotype abgefragt werden, bestätigen diese Befunde. So steigt die Zustimmung zu Aussagen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit mit sinkendem Einkommen. Siehe: Zick, Andreas/Küpper, Beate/Mokros, Nico (Hg.) 2023: Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf., S. 169.
24 Honneth, Axel 2021: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 11. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 207.
Die Gründe für die Nichtinanspruchnahme von Unterstützungsangebote durch Armutsbetroffene sind vielfältig, aber auch Scham kann eine große Rolle dabei spielen, wenn es darum geht, Hilfe von unterschiedlichen Personen und Ebenen anzunehmen oder abzulehnen. Denn schließlich offenbart der Hilfesuchende damit seinen Unterstützungsbedarf.
Im Extremfall betrifft die scham-begründete Verweigerung von Hilfe nicht nur die Gesellschaft und die professionellen Hilfen, sondern sogar den Nahbereich:
„Ja, zum Beispiel mein Bruder war obdachlos, der hat auch keine Krankenversicherung gehabt. So der Leiter ist ehemalig gestanden, mein Bruder, der hat immer, wenn er zu uns gekommen ist, gesagt, lass dir halt helfen, wir helfen dir. Ich suche eine Wohnung, ich helfe dir, ich arbeite, der hat sich nicht helfen lassen“ (ZG GD, Pos. 24), so berichtet einer der Experten.
In der Regel bezieht sich die Nicht-Inanspruchnahme jedoch auf Hilfe von außen, sowohl ehrenamtliche als auch staatliche Unterstützungsleistungen. So erklärt bspw. Herr J:
„Viele schämen sich halt auch, sich da anzustellen, ne? Sich dann selbst eingestehen, hoppla, ich brauch Hilfe von irgendwem“ (Herr J, Pos. 44).
Sich bei einer Lebensmittelausgabe anzustellen, ist gleichbedeutend damit, sich ein Problem einzugestehen, was Herrn J zufolge vielen sehr schwerfällt (Herr J, Pos. 48). Man gesteht sich dadurch vor anderen und sich selbst ein, dass man es nicht schafft, selbstständig für sich zu sorgen und bekennt sich insofern zu einem Scheitern bei einem in dieser Gesellschaft sehr wichtigem Wert, der Selbstverantwortung.
Herr Ö stört an der Vorstellung, nach Hilfe zu fragen, die Position, in die er sich dabei begibt: „Also ich kann zum Arzt gehen, bin aber dann halt wieder, also der Deutsche an sich ist eigentlich nicht gerne ein Bittsteller. Das ist so in der Erziehung“. Darauf führt Herr Ö auch zurück, dass gerade ältere Menschen „lieber zum Flaschensammeln“ gehen würden, statt als Alternative dazu, Hilfe von außen zu erfragen (Herr Ö, Pos. 22). Dabei fügt sich das Flaschensammeln perfekt in die Werte und Normen der Leistungsgesellschaft: Zwar gehen die Betroffenen keiner regulären, anerkannten Tätigkeit nach, aber auch sie müssen etwas für ihren „Verdienst“ tun. Allgemein berichten viele Expertinnen und Experten von Berührungsängsten mit dem Hilfesystem (ZG H, Pos. 13). Bei den Rengschburger Herzen bspw. hat man deswegen dafür gesorgt, dass die Lebensmittelausgabe ohne lange Schlangen auf dem Bürgersteig abläuft – schließlich markiert dieses Warten-Müssen eine für alle sichtbare Form des Unterstützungsbedarfs, was für einige als entwürdigend wahrgenommen wird.
Das Stigma fehlender eigener Leistung betrifft direkt die dritte Anerkennungssphäre: Arme Menschen verfügen über kein soziales Prestige, das sie aus ihrer gesellschaftlichen Rolle ziehen könnten und sie haben Angst davor, als Hilfsbedürftige identifiziert zu werden.
Aus den Interviews mit Mitgliedern des Integrationsbeirats, dem Herausgeber einer deutsch-türkischen Zeitschrift in Regensburg und mit sog. „Gastarbeitern“ der ersten Generation haben wir den Eindruck gewonnen, dass die schambedingte Nicht-Inanspruchnahme in der migrantischen Community ebenfalls gehäuft auftritt. Ein türkischstämmiger Rentner aus der ersten Generation schildert: „Ich habe gehört, das ist kein Wissensproblem, sondern einfach, vielleicht sie schämen sich oder sie sind zu stolz oder weiß ich nicht“ (Herr A, Pos. 52). Die eigene Hilfsbedürftigkeit wird verheimlicht, was teilweise sogar Hilfe aus dem Nahbereich verunmöglicht: „Ja, also unter den Nachbarn oder Freunden ist die Unterstützung wahrscheinlich nicht so, weil man scheut sich halt. Also man sagt nie, mir geht es schlecht oder ich kann irgendwie bis zum Monatsende, schaffe ich das nicht. Also das wird natürlich, das ist ein Schamgefühl, das ist zu groß bei uns. Und deswegen, das sagt man nicht unter Freunden oder Nachbarn oder was weiß ich, das bekommen viele nicht mit. Also kann ich auch nicht mitbekommen“ (ZG P, Pos. 18).
Auch eine türkischstämmige Rentnerin bestätigt dies: Sie möchte ihren Kindern, ihren Enkelkindern und auch dem Staat nicht zur Last fallen (Frau Z, Pos. 34, 98, 143, 185).
Einerseits werden Scham und Stolz betont, andererseits wird unter anderem von Mitgliedern des Integrationsbeirates auf Unterstützungsnetzwerke innerhalb der Community verwiesen: „Also ich kenne ganz viele, wo die Kinder halt einfach aushelfen. Ich habe jetzt auch nicht so viele Türkischstämmige gesehen bei der Tafel, ehrlich gesagt. Da ist es ja mit der Familienstruktur ähnlich, dass die Kinder einfach aufkommen für die Eltern. Und bei der Ukraine ist es übrigens nicht anders“ (ZG SRI1, Pos. 41). Dieselbe Expertin spricht von selbstorganisierter, institutionalisierter Hilfe in den Communities, wenn es gilt, bürokratische Hürden zu überwinden (ZG SRI1, Pos. 20, 37).
Andere Expertinnen und Experten hingegen halten es für einen Mythos, dass in den russisch- und türkischsprachigen Communities ein familiäres Netzwerk existiert, da auch hier die Auflösung der Großfamilien und die Vereinzelung inzwischen fortgeschritten sei. So hält die Sozialbürgermeisterin fest: „Die Großfamilie ist ja auch nicht mehr üblich, auch nicht im migrantischen Bereich. Das ist sicher eine Herausforderung, die Einsamkeit älterer Menschen zu bekämpfen, weil immer mehr Menschen alleine daheim sind“ (Sozialbürgermeisterin Dr. Freudenstein, Pos. 23). Diese Einschätzung bestätigt auch ein Rentner, der in der türkischsprachigen Community bestens vernetzt ist: „Nein, die Familie steht nicht mehr dahinter. Ich sehe das von keinem. Also ich bin oft mit Türken zusammen, aber diesen Zusammenhalt gibt es nicht mehr. Jeder denkt an sich“ (Herr A, Pos. 44).
Auch wenn hier die Meinungen auseinandergehen, herrscht Einigkeit hinsichtlich des Schamgefühls. So erläutert ein Experte: „Das sagt man nicht. Dass man bedürftig ist, dass man Hilfe braucht. Das wäre eins mit der schlimmeren Sachen, wenn meine Eltern Wohngeld oder irgendetwas bräuchten. Hartz IV, das war mal Thema bei uns in der Familie, der Vater hat verzichtet. Die genieren sich.“ (ZG SRI2, Pos. 101) „Wenn sie (zum Amt, I.S.) gehen, dann mit Sonnenbrille und Mütze, Maske, vielleicht in der Winterzeit“ (ZG P, Pos. 28), so die Einschätzung eines anderen Experten.
Tatsächlich scheint es gerade in den migrantischen Communities eine hohe Hemmschwelle zu geben, man fühlt nicht komplett zugehörig – obwohl die „Gastarbeiter“-Generation dieses Land wesentlich mit aufgebaut hat. In der Logik der Anerkennungssphären gedacht, ließe sich dies jedenfalls so deuten: Manche Menschen mit Migrationshintergrund – auch wenn sie inzwischen eingebürgert sind – fühlen sich nach wie vor nicht als völlig gleiche Staatsbürger und scheuen sich dementsprechend davor, ihre sozialen Rechte in Anspruch zu nehmen.
Frau W hat sich schließlich dazu überwunden, Hilfe anzunehmen:
„Ja und ich habe jetzt diese Schwelle überschritten, dass ich gesagt habe, ich gehe nirgendwo hin. Ich mache das nicht. Es ist einfach so, wie es ist, und ich muss es annehmen. Und ich bin froh, dass es, dass es so was gibt hier“ (Frau W, Pos. 14).
Frau W hatte zuvor kategorisch ausgeschlossen hatte, Hilfe zu suchen. Die Schwelle bestand für sie in der Schwierigkeit, ihre eigene Hilfsbedürftigkeit zu akzeptieren. Seitdem nimmt sie die Hilfeangebote sehr positiv wahr. Frau W hat also zunächst Scham empfunden, sich aber über sie hinweggesetzt und konnte dann von dem Hilfeangebot profitieren. Auch Herr O erzählt, dass er froh ist, Hilfe von außen angenommen zu haben, insbesondere die von Fachkräften (Herr O, Pos. 34). Frau A hat ebenfalls positive Erfahrungen damit gemacht, „alle fremde Hilfen“ anzunehmen, „wo sich angeboten haben für mich“. Sie erzählt, dass sie es nur auf diese Weise schaffen konnte, sich „wieder auf die eigenen Füße“ (Frau A, Pos. 47) zu stellen, also sich wieder selbst helfen zu können.
Dieser Übergang findet jedoch bei vielen nicht statt. Ein Stadtteilkümmerer berichtet: „was kann man dann machen? Die lassen sich ja teilweise gar nicht helfen. Ich kann auch nicht sagen, ich kann halt schon sagen, Mensch, ich lade dich mal auf einen Kaffee ein oder was, aber das ist denen teilweise dann schon peinlich“ (ZG GD, Pos. 15).
Daran wird auch deutlich, dass hier ein enger Zusammenhang zum nächsten Unterkapitel, dem schambesetzten Rückzug aus der Gesellschaft, besteht: Zu beobachten ist ein fataler Kreislauf von Scham, Rückzug und Scheu, Hilfe anzunehmen:
„Und gerade die Verknüpfung mit der Einsamkeit. Die Einsamkeit ist ja teilweise auch deswegen da, weil die Leute Angst haben, sich im Endeffekt nach außen zu bewegen. Ja, klar. Und genau wenn ich jetzt was machen will gegen die Armut, um denen zu helfen, ist es schwierig, weil die erreiche ich gar nicht“ (ZG F, Pos. 13).
Diese Einschätzung teilen viele Expertinnen und Experten. Die dadurch entstehende verdeckte Armut lässt sich naturgemäß schwer erfassen. Um den Aspekt des schambedingten Rückzugs und seinen negativen Folgen für die Lebensqualität der Betroffenen soll es im Folgenden gehen.
Armutsbetroffene Menschen sind häufiger von Einsamkeit betroffen und ihre eingeschränkte soziale Einbindung spiegelt sich auf sämtlichen Ebenen – vom Nahbereich über das gesellschaftliche Leben bis hin zur politischen Partizipation:
„Ja, also ich nehme schon Einsamkeit als DAS Merkmal von Armut wahr“ (ZG F, Pos. 8).
Dass sich Armutsbetroffene auf unterschiedlichen Ebenen aus der Gesellschaft zurückziehen, hat nicht nur psychologische Gründe. In der hier dargestellten Logik stellen Scham und der geringe Selbstwert den zentralen Faktor für das Phänomen der Einsamkeit dar. Nichtsdestotrotz ist es nur im Kontext des vorgelagerten Problems zu sehen: Armutsbetroffene verfügen über wenig Geld und sind deswegen gezwungen, ihre Ressourcen gut einzuteilen und auf Dinge zu verzichten, die nicht lebensnotwendig sind. Insofern steht zuerst der Zusammenhang von monetärer Armut und Rückzug, bevor die zweite Ebene des schambedingten Rückzugs greift.
Belege für die monetäre Ursache des Rückzugs finden sich in den Interviews. Zahlreiche Betroffene berichten davon, dass ihnen schlicht das Geld fehlt, um ihre privaten Kontakte zu pflegen:
Schildbach: „Das heißt, Sie haben eigentlich die Freunde und die Kontakte, aber man kann dann halt nicht überall mit.“
Frau P: „Nein, nein, kann man nicht. Also zurzeit kann ich ja nirgends hingehen, weil halt einfach das Geld nicht da ist“ (Frau P, Pos. 41-42).
Ein anderer stellt mit Blick auf seine finanziellen Ressourcen fest: „Ich kann kulturell nichts mehr“ (Herr H, Pos. 47). „So, allgemein Freizeitmöglichkeiten ist halt schwierig, weil alles halt Geld kostet“ (Herr L, Pos. 13), berichtet eine andere Person.
„Mein Problem ist halt das jetzt zum Beispiel, man ist halt kulturell alles außen vor, man kann sich halt Konzerte nicht leisten. Wir haben halt gerne gesagt, okay, ich würde gerne hingehen, man hat halt einfach nicht das Geld“ (Frau P, Pos. 34, s. auch Interview Frau Ä).
Die Menschen müssen ihre Ausgaben genau im Blick haben und alles, was nicht unmittelbar dem Wohnen, der Ernährung und der Mobilität dient, muss als vermeintlich nicht-notwendiger Posten gestrichen werden. Andere Bedürfnisse bleiben auf der Strecke.
„Ich meine, leben kann man schon. Also Lebensmittel sind nicht so teuer, aber man lebt ja nicht nur vom Essen. Man hat ja auch andere Bedürfnisse“ (Herr A, Pos. 91).
Besonders problematisch ist dies im Kontext von Kinderarmut; so berichtet eine Person:
„Ich habe eine 14-jährige Tochter, die will was unternehmen. Ich kann nicht immer sagen, nein, du darfst nicht, weil es Geld nicht langt. Das ist auch ein riesengroßes Problem“ (Frau P, Pos. 12).
In einer Studie von 2019, in der die Konsumausgaben von Familien im Kontext von Kinder- und Jugendarmut untersucht wurden, zeigte sich ein klares Bild25: Eine durchschnittliche Familie gibt rund 600 Euro pro Monat für ein Kind aus, bei den ärmsten 10 % sind es 364 Euro, bei den reichsten 10 % 1.200 Euro.26
Halten wir fest: die über den physischen Bedarf hinausgehenden Ausgaben sind nicht überflüssig, wie manche Kritiker der Sozialausgaben meinen, sondern Teil der menschlichen Bedürfnisstruktur: Menschen als soziale Lebewesen möchten mit anderen in Verbindung treten und brauchen den Austausch zur eigenen Entwicklung. Fällt dieser Bereich weg, gehen sie eines großen Feldes der Verwirklichungschancen verlustig.
„Die Situation, wenn Freunde irgendwas unternehmen, wenn Freunde sagen, Mensch, geh mal am Wochenende ins Kino, dann sagen zu müssen, tut mir leid, kann ich nicht. Oder nicht, wenn ich am Monatsende noch was essen will. Das ist ein ganz großes Problem. Das ist ein mentales Problem, das ist ein psychosoziales Problem (…). Also da bin ich an einem Punkt, das ist nicht einfach, der Begriff Lebensqualität ist so leicht vor sich hingesagt. Für mich ist es tatsächlich ein sehr starker gesundheitlicher Beitrag, auch eben diese Möglichkeit, mit anderen Menschen was unternehmen zu können, auch zwei Karten zu bekommen, auch sagen zu können, Mensch, geh mal da zusammen hin“ (ZG K, Pos. 26).
Besonders auffällig und wenig überraschend war in den Interviews auch der Zusammenhang von eingeschränkten finanziellen Ressourcen, Einsamkeit und Arbeitslosigkeit. Wie dargestellt, kommen der Erwerbsarbeit wichtige, auch psychologische und soziale, Funktionen zu. Ein Betroffener erzählt mit Blick auf sein Ehrenamt, wie sehr ihm dieses hilft, um sozial nicht gänzlich ausgeschlossen zu sein: „Ich mache das ganz gerne, weil ich denke mir, schade, man ist ein bisschen isoliert, wenn man arbeitslos ist, aber man ist draußen vor dem Ganzen, weil man viel nicht machen kann, wo man gerne dabei sein möchte“ (Frau P, Pos. 52).
„Es gibt ja zum einen die materielle Armut. Man hat wenig Geld, kleine Renten, kann sich die Mieten nicht leisten. Das ist das eine … Ich glaube, es gibt aber, und das betrifft uns in der Kommunalpolitik, dann schon stark auch so eine soziale Komponente von Armut. Und es ist die Armut zum Beispiel an der Teilhabe, dass ich mir bestimmte Dinge des gesellschaftlichen Lebens nicht leisten kann, was für andere vielleicht ganz selbstverständlich ist. Mal einen Kaffee trinken, irgendwo im Café, ins Theater gehen oder ins Schwimmbad gehen oder sich was leisten. Und diese versteckte und teilweise verschämte Armut, das ist etwas, wo wir rankommen müssen und wo wir in der Kommune eben versuchen, weil wir ja am nächsten dran sind, an den Menschen da zu helfen“ (Sozialbürgermeisterin Dr. Freudenstein, Pos. 5).
Gerade hier liegt jedoch die große Schwierigkeit: Wie erreicht man Menschen, die den öffentlichen Raum meiden?
„Und gerade die Verknüpfung der Einsamkeit. Die Einsamkeit ist ja teilweise auch deswegen da, weil die Leute Angst haben, sich im Endeffekt nach außen zu bewegen. Und genau wenn ich jetzt was machen will gegen die Armut, um denen zu helfen, ist es schwierig, weil die erreiche ich gar nicht“ (ZG F, Pos. 13).
Wo es am dringendsten wäre, einen Zugang zu den Menschen zu finden, gelingt es am wenigsten. Es bedürfte dringend entsprechender Maßnahmen, um die Isolation zu durchbrechen – schließlich hilft selbst das breiteste Unterstützungsnetzwerk einer Stadtgesellschaft nichts, wenn sich die Betroffenen in ihre Wohnungen zurückziehen.
Einsamkeit wurde in den letzten Jahren zu einer Art Trendthema, zu dem zahlreiche Studien erschienen. Insofern lassen sich die Befunde unseres Projekts sehr gut ins Verhältnis zu repräsentativen Erhebungen setzen. Einer Expertise des Kompetenznetzes Einsamkeit zufolge existieren viele Belege für den Zusammenhang von Einsamkeit und Armut.27 Armutsbetroffenheit reduziert die Häufigkeit der Treffen mit anderen Menschen, die Gelegenheiten, soziale Netzwerke zu pflegen oder zu erweitern. So wird die Wahrscheinlichkeit der sozialen Isolation erhöht.28
Auch die Bundesregierung nimmt sich dem Thema im sog. „Einsamkeitsbarometer“ an, das zwar nicht den Fokus auf Armut legt, aus dem sich aber dennoch Erkenntnisse ziehen lassen: Einsamkeit zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen, sie ist kein reines Phänomen bei Armutsbetroffenen. Dennoch lassen sich bestimmte Gruppen identifizieren, die besonders betroffen sind. Hierzu gehören unter anderem ältere arme Menschen, worauf später noch einzugehen sein wird, sowie Armutsbetroffene allgemein. Bei den Erwachsenen fühlen sich insbesondere Personen, die nicht (mehr) am Erwerbsleben teilnehmen, häufiger einsam.29
Zudem zeigt sich in der Studie, dass Menschen mit Einsamkeitsbelastungen deutlich weniger am allgemeinen Wohlstandsgewinn partizipierten. Während das Äquivalenzeinkommen der Gesamtbevölkerung von 2013 bis 2017 um 7,3 Prozentpunkte stieg, betrug die Zunahme bei Menschen mit Einsamkeitsbelastungen weniger als einen Prozentpunkt.30 Weiterhin haben Menschen mit Einsamkeitsbelastung weniger Zugang zum informellen Arbeitsmarkt, da ihnen die entsprechenden Kontakte fehlen.31
Worauf wir aus Kapazitätsgründen nicht vertieft eingehen können, ist die Personengruppe der Alleinerziehenden: Aus bundesweiten Studien ist seit langer Zeit bekannt, dass der Status „Alleinerziehend“ einen Armutsrisikofaktor darstellt. Die Einsamkeits-Forschung zeigt zusätzlich, dass Alleinerziehende auch wesentlich häufiger von Einsamkeit betroffen sind als Personen, die sich die Kindererziehung teilen.32 Da Regensburg einen überproportional hohen Anteil an Alleinerziehenden hat, läge hier Bedarf an Forschung für die zukünftige Armutsberichterstattung in der Stadt.
Auch intensive Formen der Care-Arbeit, wie die Pflege von Angehörigen, erschweren den Zugang zum Arbeitsmarkt und die soziale Teilhabe, was sowohl Einsamkeitsbelastungen als auch Armutserfahrungen begünstigt.33
Diese beiden Gruppen zeigen exemplarisch, wie sich multiple Belastungen bei bestimmten Personengruppen sammeln. Vom Ausgangspunkt der Einsamkeit hergedacht, kommt das Einsamkeitsbarometer zu folgendem Schluss:
„Die Lebenslagen von Menschen mit erhöhten Einsamkeitsbelastungen sind oft durch zusätzliche Belastungen wie schlechte Gesundheit, Armut oder traumatische Erfahrungen wie die Flucht aus ihrem Heimatland gekennzeichnet. Die effektive Bekämpfung von Einsamkeitsbelastungen kann nur gelingen, wenn die Mehrfachbelastungen einsamer Menschen berücksichtigt werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Entwicklung der Lebenslage einsamkeitsbelasteter Menschen in Deutschland zu erfassen“34.
Dasselbe gilt im Umkehrschluss für arme Menschen, die durch Einsamkeit, psychische Belastung, schlechtere Gesundheit etc. mehrfachbelastet sind.
Das Thema Einsamkeit ergänzend analysiert Elena Großmann in ihrer Masterarbeit, inwiefern die neoliberale Ideologie Einsamkeit bedingt.
Elena Großmann
Diese Arbeit untersucht, wie die neoliberale Ideologie zur Zunahme von Einsamkeit in der spätmodernen Gesellschaft beiträgt. Sie beleuchtet die strukturellen Mechanismen, durch die Wettbewerbsdruck, Individualisierung und Eigenverantwortung soziale Bindungen schwächen und Gefühle von Isolation verstärken. Besonders problematisch sind die Effekte auf armutsbetroffene Gruppen, die unter fehlenden sozialen Netzwerken und subjektiv erlebten Schuld- und Schamgefühlen leiden. Es wird argumentiert, dass neoliberale Werte – wie Selbstoptimierung und das unternehmerische Selbst – einen Modus des sozialen Miteinanders fördern, der kollektive Verantwortung und Fürsorge untergräbt. Empirische Studien zeigen zudem klare Korrelationen zwischen neoliberalen Gesellschaftsordnungen, wachsender Armut und dem Erleben von Einsamkeit. Diese Dynamiken stellen eine Herausforderung für die gesellschaftliche Kohäsion dar, indem sie das Gefühl von Misstrauen und Entfremdung verstärken. Die theoretische Analyse ergänzt diese Befunde durch eine historische Perspektive, die die Ideologie des Neoliberalismus als prägend für die psychische und soziale Landschaft der Spätmoderne charakterisiert. Abschließend wird Einsamkeit als soziale Konsequenz einer Ökonomisierung der Lebenswelten gedeutet, in der Marktlogiken auch private Beziehungen beeinflussen. Die Untersuchung macht deutlich, dass Armut und Einsamkeit nicht nur individuelle, sondern gesellschaftlich verankerte Phänomene sind, die politische und strukturelle Antworten erfordern. Als Ausblick stellt die Arbeit skizzenhafte Gegenentwürfe für ein resonanteres soziales Miteinander vor.
Menschen sind soziale Lebewesen, die den Kontakt zu anderen benötigen. Dies wird deutlich erschwert, wenn man sein Leben unter den Bedingungen von Armutsbetroffenheit leben muss. Scham und das Fehlen der nötigen Mittel führen zum Rückzug aus der weiteren Öffentlichkeit. Aber wie sieht es im Nahbereich aus? Droht auch hier Isolation und Einsamkeit? Bietet sich hier eine Alternative, oder in der Theorie Honneths ausgedrückt: Gelingt es ihnen, diese Sphäre des Nahbereichs, der Liebe im weiteren Sinne, zur Quelle der Anerkennung zu machen?
Unsere Befunde hierzu sind höchst widersprüchlich: Das Interview-Material deutet – wenig überraschend – darauf hin, dass sich die soziale Einbettung im privaten Bereich höchst unterschiedlich ausgestaltet. Manche scheinen über ein sehr dichtes Netz an familiären und freundschaftlichen Kontakten zu verfügen, andere haben keinerlei Ressourcen. Einfach ausgedrückt: Menschen und ihre Biografien sind eben höchst unterschiedlich. Im Interviewmaterial zeigen sich jedoch deutliche Spuren von Isolation:
„Also, außer Familie gibt’s glaub es keinen Kontakt“, so eine Betroffene (Frau Q, Pos. 16).
Manche berichten von zumindest vereinzelten Kontakten: „Ich habe eine gute Freundin da. Die kenne ich schon über 40 Jahre. Von daher habe ich schon Anbindung“ (Frau Ä, Pos. 81). Eine andere erwähnt, dass der Besuch bei der Tafel vor allem auch deswegen so wichtig ist, weil man dort regelmäßig die gleichen Menschen trifft.
Ein Obdachloser berichtet davon, wie sehr er eine intime Zweierbeziehung vermisst:
Weber: „Ich hätte noch eine Abschlussfrage an Sie. Was erhoffen Sie sich denn für Ihr Leben in der nächsten Zeit?“
Herr Ö: „Die große Liebe“ (Herr Ö, Pos. 149-150).
Auch einen engen Freund hat er nach eigenen Angaben nicht: „(D)ass mir die letzten vier bis fünf Jahre die sozialen Kontakte von Freunden, Bekannten gegen null gehen und Gespräche sich auf Taxifahrten und Hotel einchecken oder sonstiges“ (ebd.) beschränken, stellt seine größte Belastung dar.
Weber: „Und würden Sie sich mehr Leute wünschen, mit denen Sie gut können in Ihrem Leben? Also haben Sie da genug?“
Herr Ü: „Ich hab viele verloren. Viele verloren. Die sind da so ab 35 aufwärts, die ich nach den Jahren alle verloren hab. Alle, wo ich die super Zeit hatte und auch klargekommen bin. Ein paar sind natürlich durch gewisse, ihre eigenen, abgestürzt und auch nicht mehr rausgekommen. Und die sind auch ganz dann weg“ (Herr Ü, Pos. 101-102).
Da das Leben auf der Straße ohnehin gesundheitlich sehr belastend ist, haben Menschen in dieser Lage oft eine verkürzte Lebenserwartung. Herr Ü berichtet also auch über diese „Verlorenen“.
Sind familiäre Strukturen, Freundschaften oder Intimbeziehungen nicht vorhanden, können Haustiere eine existenzielle Rolle im Leben Armutsbetroffener spielen:
„Ich war ja auch schon lange nicht mehr bei der Tafel. Weil ich verstecke mich dann in meiner Wohnung, das ist auch schwierig. Ich bin froh, dass ich ihn (einen Hund, I. S.) habe, weil dann muss ich raus“ (Frau X, Pos. 56).
Der Hund wird zum zentralen Ansprechpartner und zugleich zum einzigen Grund, um die Wohnung zu verlassen. Dieser Aspekt wurde bei den Interviews nicht proaktiv angesprochen. Aus unserer Sicht müssten hier weitere Befragungen erfolgen, um ein genaueres Bild zu erhalten. In den Gesprächen mit einer ehrenamtlichen sozialen Einrichtung, die auch Hausbesuche bei immobilen Menschen durchführt, wurden immer wieder Haustiere als Möglichkeit der Linderung von Einsamkeit angesprochen:
„Wen haben sie denn sonst noch? Außer das Tier? Das ist der einzige soziale Kontakt, den wir oft haben. Auch mit dem sie reden können, der antwortet natürlich nicht, aber da wird sich dann auf der Couch gekuschelt, oder auf dem Boden zur Not, oder in der Notunterkunft, oder wo auch immer. Obdachlose haben wir jetzt nicht, aber wir haben jetzt sehr viele alleinlebende und einsame Menschen, Senioren, genauso wie junge Leute, die sehr einsam sind, die aufgrund von Krankheit, Depression aus dem Berufsleben gefallen sind (…). Und dann vereinsamt man halt einfach (ZG FS, Pos. 6).
Für das Tier gilt: „Das verlässt mich nicht“. Vor dem Haustier muss man sich nicht schämen, es legt keine gesellschaftlichen Maßstäbe an einen an, sodass es in vielen Fällen zum einzigen Bezugspunkt wird.
Im Folgenden sollen die Gegenstimmen zu Wort kommen, in denen die soziale Einbindung kein Problem darzustellen scheint. Unserem nicht-repräsentativem Material zufolge trifft dies auf weniger Menschen zu. „Und also der Freundeskreis ist so riesig groß geworden, dass ich gar nicht einsam bin“ (Frau B, Pos. 61), so eine Betroffene. Herr Z sagt auf Nachfrage:
Weber: „Würdest du noch irgendwelche Art von sozialen Kontakten vermissen?“
Herr Z: „Im Augenblick nicht“.
Weber: „Bist zufrieden mit deinem Freundeskreis und so? (Nickt). Okay“ (Herr Z, Pos. 43-45).
Dass es offenbar große Unterschiede in der privaten Einbindung gibt, bestätigen auch die interviewten Expertinnen und Experten. So ist einem Ehrenamtlichen zufolge Einsamkeit ein zentraler Faktor von Armut, aber: „Einsamkeit. Also das ist, ja. Was aber nicht heißt, dass alle Armen einsam sind“ (ZG F, Pos. 10). Ein weiterer Vertreter einer ehrenamtlichen Initiative beobachtet:
„Die Community, also die ärmere Bevölkerung ist schon auch vernetzt. Unter anderem ist es nicht so, dass die alle solo durch die Stadt laufen. Sondern es gibt schon auch Vernetzungen.“ (ZG S, Pos. 49).
Insofern lassen sich schlicht keine eindeutigen Aussagen hinsichtlich der privaten Einbindung Armutsbetroffener treffen und die widersprüchlichen Befunde müssen an dieser Stelle vorläufig ungeklärt stehenbleiben.
25 Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e. V. (Hg.) 2019: Verschlossene Türen. Eine Untersuchung zu Einkommensungleichheit und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen. Berlin (https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/doc/expertise-konsumausgaben-2019.pdf; Zugriff: 19.12.2024).
26 Ebd., S. 14.
27 Dittmann, Jörg/Goebel, Jan 2022: Einsamkeit und Armut. KNE Expertise 5/2022 (https://kompetenznetz-einsamkeit.de/download/2943/; Zugriff: 17.12.2024), S. 6.
28 (Böhnke / Link 2017, S. 252 ff.)
29 BMFSFJ (Hg.) 2024: Einsamkeitsbarometer 2024. Langzeitentwicklung von Einsamkeit in Deutschland. Berlin (https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/einsamkeitsbarometer-2024-237576; Zugriff: 20.12.2024).
30 Ebd., S. 33.
31 Ebd., S. 32.
32 Ebd., S. 34.
33 Ebd., S. 33.
34 Ebd., S. 26.
In den drei Feldern der Anerkennung sehen wir bei armutsbetroffenen Menschen Elemente der Isolation, des Rückzugs, von Scham und das Gefühl der verweigerten Anerkennung durch die Gesellschaft. Sehen sie sich zumindest als Staatbürgerinnen und Bürger als wirkmächtig? Beteiligen sie sich an politischen Prozessen, die ihre Situation eventuell verbessern könnten?
Armutsbetroffene beteiligen sich seltener an politischen Prozessen, sie sind weniger politisch interessiert, seltener bei caritativen oder politischen Initiativen sowie Parteien engagiert und auch ihre Wahlbeteiligung ist geringer.
Die Erfahrung von monetärer Armut spiegelt sich auf der politischen Ebene wider. Die fehlende Selbstwirksamkeit in sämtlichen Lebensbereichen wird auch auf das Politische übertragen. Dementsprechend existiert kein Selbstbewusstsein als Bürgerin oder Bürger eines demokratischen Gemeinwesens, das man sogar mitgestalten könnte.
Die wenigen Passagen in den Betroffeneninterviews, die sich mit der politischen Dimension beschäftigen, scheinen die Befunde aus quantitativen Studien zu bestätigen: Lediglich eine Person äußerte, sie sei „schon ein bisschen politisch interessiert“ (Herr Ö, Pos. 8), während dies von den meisten anderen explizit verneint wurde. Tatsächlich stellte es sich sogar als äußerst schwierig heraus, überhaupt eine Antwort zum Thema Politik zu erhalten. Auf die Frage, was die Kommune oder die Politik vor Ort machen könnte, um ihre Lebensumstände zu verbessern, haben wir kaum Auskunft erhalten. Zu unserem Erstaunen wurden in den wenigsten Fällen Themen der Bundespolitik, wie bspw. eine Renten- oder Pflegereform, aufgeführt. Einmal war dies in Bezug auf Sozialpolitik explizit der Fall: „Weil wenn ich jetzt wirklich 45 Jahre gearbeitet habe, dann sollte ich auch dementsprechend behandelt werden als Rentner. Das wäre eine Sache, die mal irgendwann mal überdacht werden müsste.“ (Herr H, Pos. 35), so erläutert ein Befragter. Denn:
„(W)ieso hat ein Rentner, der jahrelang gearbeitet hat, und es gibt ja auch noch andere außer mir, die halt dann noch im Müllcontainer oder in den Abfallbehältern Flaschen sammeln gehen müssen. Gut, das ,Müssen‘ halt stell ich mal jetzt dahin, aber das ist dazu, damit die ihren Lebensabend noch ein bisschen, einigermaßen angenehm gestalten können.“ (ebd.).
Seiner Ansicht nach gelingt es dem aktuellen Rentensystem nicht, seine Rolle zu erfüllen: „eine Rente sollte so gestaltet sein, dass jeder ordentlich leben kann.“ (ebd.).
Tatsächlich hatten wir bei allen anderen Befragten eher den Eindruck, dass viele schlicht nicht auf dieser Ebene denken. Die wenigsten scheinen sich als Bürgerinnen und Bürger zu begreifen, die im demokratischen Gemeinwesen eine Stimme haben und Bedürfnisse formulieren könnten/dürfen. So entgegnet eine Person auf Nachfrage, wie er mit der Höhe des Bürgergeldes zurechtkommt: „Schwierig, aber es muss ja gehen“ (Herr Z, Pos. 10). Selbst wenn man also unzufrieden ist, leitet man daraus nicht automatisch Reformbedarf bzw. eine politische Forderung ab, sondern scheint eher darum bemüht, mit den widrigen Umständen zurechtzukommen.
Wenn die Sprache auf die Sphäre des Politischen kommt, dominiert häufig das Gefühl der Machtlosigkeit:
„(M)an hat so das Gefühl, dass der Bürger irgendwie außen vorgelassen wird. Also dass man da gar nicht dran… Also zumindest in der Bundespolitik. Ich denke mal, dass das… Ich habe mich da noch nicht bemüht, muss ich sagen. Aber was ich so von anderen weiß, gehört habe, ist das in der Kommunalpolitik ähnlich. Dass man kaum durchkommt oder so“ (Herr I, Pos. 33).
Man „kommt kaum durch“ mit seinen Interessen, sodass es offensichtlich gar nicht erst in Erwägung gezogen wird, sich in diesem Bereich zu engagieren. So beklagt auch eine andere Person: „Ach die Stadt, da hab ich kein Recht. […] Das geht ja doch nicht alles“ (Frau V, Pos. 96-98).
Erschwerend kommt hinzu, dass Armutsbetroffene sich entweder keiner Gruppe zugehörig fühlen, oder aber einer Gruppe, die über keinerlei soziales Ansehen verfügt. Insofern ist es naheliegend, dass man sich auch politisch vereinzelt und damit machtlos fühlt.
Die wahrgenommene Ohnmacht paart sich bei vielen mit der Ansicht, dass sie deswegen keinen Einfluss auf die Politik haben, weil diese ganz prinzipiell bürgerfern ist:
„Weil man muss da (als Bürgergeldempfänger, I. S.) wirklich mit jedem Cent rechnen, irgendwie. Das können sich die nicht vorstellen und das ist auch von der Politik her, das Bürgergeld, das ist zu hoch, das ist zu hoch, wir wollen nicht mehr arbeiten oder was weiß ich, und das finde ich schon ziemlich bedenklich“ (Frau Ä, Pos. 123).
Frau Ä. nimmt Politik als eine Art Parallelgesellschaft wahr, in der jede Vorstellung von einem durchschnittlichen bzw. gar armutsbetroffenen Leben fehlt: Wüssten die Politikerinnen und Politiker nur um die Lebensrealität der Betroffenen, so ihre Annahme, wäre eine solche Aussage aus dieser Perspektive undenkbar.
Immer wieder wird der Eindruck zur Sprache gebracht, dass die (Bundes-)Politik nicht nach den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger, sondern aus Eigeninteressen agiert. So fragt eine Rentnerin mit Blick auf die Schere zwischen Arm und Reich: „Aber ein paar Köpfe, ein paar Politiker, die haben fünf Villen, zwei Chauffeure, dicke Autos. Wo sind wir denn hingekommen?“ (Frau B, Pos. 93). Auch hier wieder werden Politikerinnen und Politiker als bürgerfern begriffen, die außer ihrem Amt wohl nur ihrem eigenen Geldbeutel dienen. Probleme werden personalisiert auf die Figur der Politiker bezogen, dass andere Gründe für politische Entscheidungen außer „Korrumpierbarkeit“ existieren könnten, wird kaum in Betracht gezogen.
Diese fügt sich auch in den Befund aus der Einsamkeits-Forschung, dass Betroffene mit sinkenden sozialen Kontakten allgemein immer weniger Vertrauen in ihre Mitmenschen und in politische Institutionen haben.
Abbildung 1: Vertrauen in politische Institutionen nach Einsamkeitsbelastung (2021)

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Daten des BMFSFJ (Hg.) 202435
Tatsächlich ist das Vertrauen in das Rechtssystem, die Polizei, die Parteien, die Politikerinnen und Politiker sowie den Bundestag bei von Einsamkeit Betroffenen deutlich niedriger, wobei vor allem die große Differenz hinsichtlich des Justizsystems und des Parlaments von jeweils über 11 Prozentpunkten auffällt.
Ergänzend hierzu beleuchtet Manuel Ruland in seiner Bachelorarbeit den Zusammenhang zwischen Wohlstand und politischer Radikalisierung.
Manuel Ruland
Wohlstand ist weltweit und insbesondere in Deutschland sehr ungleich verteilt. Während die obersten zehn Prozent 67 Prozent des gesamten Nettovermögens besitzen, rutschen immer mehr Menschen aus der Mittelschicht in die Armut ab – oder sind zumindest davon bedroht. Dabei befeuern grundlegende Mechanismen unseres Wirtschaftssystems diese Ungleichverteilung. Beispiele hierfür sind das Vererben enormen Reichtums, Steuergesetze, die systematisch umgangen werden können und politische Verstrickungen von Interessensvertretern (Lobbyismus).
Auch ideologisch aufgeladene Netzwerke und deren Thinktanks spielen eine entscheidende Rolle, um neoliberale Ideen und Praktiken politisch zu legitimieren und Zweifel an anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu säen – etwa durch die Leugnung des menschengemachten Klimawandels.
Diese Aspekte können eine gesellschaftliche Bewegung begründen, die durch Verunsicherung und Ängste gespeist wird, sich politisch radikalisiert und die extremen Ränder des politischen Spektrums wählt. Heute sind es vor allem rechtsextreme Parteien, die davon profitieren. Das Gefühl der Sicherheit, das durch ein konservatives und rechtsextremes Weltbild vermittelt wird, verfängt bei vielen Menschen, die sich abgehängt und vom sozialen Abstieg bedroht fühlen. Dies kann so weit gehen, dass manche Menschen sogar Verschwörungsmythen verfallen, wie dem Glauben an eine versteckte Weltelite. Der Ursprung vieler Verschwörungstheorien liegt oft in antisemitischen Erzählungen aus der Zeit des Dritten Reichs.
Eine ungleiche Verteilung von Wohlstand begünstigt somit gesellschaftliche und politische Radikalisierung.
Abschließend möchten wir in Anlehnung an den Ansatz der Anerkennung von Honneth noch ein paar Überlegungen zur politischen Selbstermächtigung anstellen: Wenn die Unzufriedenheit mit der eigenen politischen Lebenssituation Arme eher zu vereinzeln und zu lähmen scheint, wann und wie ist dann politische Gegenwehr denkbar?
In unserem Material findet sich kein Hinweis auf irgendeine Form des politischen Aktivismus, weder durch Wahlbeteiligung, Unterschriftenlisten, Partei- und Gewerkschaftsarbeit, Demonstrationen oder andere Weise. Lediglich eine Person stellt eine Ausnahme dar: Es wurde eine armutsbetroffene Rentnerin interviewt, die aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit ihrer eigenen Rente eine Petition gestartet sowie Pressekontakt gesucht hat und einen Verein gründen möchte, der sich für eine Rentenreform einsetzt. Abgesehen von dieser Person lässt sich für die Interviewten festhalten, dass ein „Kampf um Anerkennung“ nicht stattfindet.
Eine soziale Bewegung oder den Versuch einer „Umdeutung“ der Bewertung der eigenen Gruppe gibt es bei den Armen nicht. Wie dargelegt, definieren sich die meisten gar nicht als arm, existiert also aus deren Sicht keine Gruppenzugehörigkeit oder diese wird geleugnet. So kann logischerweise kein Wille entstehen, sich zusammen für die eigenen Interessen einzusetzen. Ein Kampf um Anerkennung als Gruppe ist nicht zu erkennen.
35 BMFSFJ (Hg.) 2024: Einsamkeitsbarometer 2024. Langzeitentwicklung von Einsamkeit in Deutschland. Berlin (https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/einsamkeitsbarometer-2024-237576; Zugriff: 20.12.2024), S. 64.
Im Folgenden werden die besprochenen sozialpsychologischen Phänomene auf ältere Armutsbetroffene ausgedehnt. Hierbei ergeben sich selbstredend zahlreiche Überschneidungen zu den anderen Altersgruppen, aber auch einige bemerkenswerte Besonderheiten, die für den Berichtsschwerpunkt „Altersarmut“ hohe Relevanz haben.
Wenn wir im weiteren Text von „Alter“ sprechen, sind wir uns der Tatsache bewusst, dass unter „Alter“ nicht eine einheitliche Lebensrealität zu verstehen ist. Die bunte Lebenswelt von „Best Agern“ aus der Werbung unterscheidet sich dramatisch von der von Hochaltrigen in einer Pflegeeinrichtung.
„Alter ist vielfältig. Ältere Menschen sind keine homogene Gruppe, sondern unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht voneinander. Frauen und Männer, Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte sowie Menschen verschiedener sexueller und geschlechtlicher Identitäten erleben das Älterwerden zum Teil ganz unterschiedlich“36.
Es existieren zahlreiche Gründe dafür, den Schwerpunkt dieses Berichts auf Altersarmut zu legen. Studien zur Thematik der steigenden Altersarmut erschienen im Zeitraum, in dem dieser Bericht entstand, quasi im Wochentakt.37 Darüber hinaus gibt es noch eine andere, diffuser zu fassende Ursache, die dieses Kapitel dringend notwendig macht: Die Beschäftigung mit Altersarmut ist, wie wir im Zuge der Projektarbeiten erfahren haben, äußerst unbeliebt bei den unterschiedlichsten Personengruppen.
Es ist z. B. auffällig, dass es trotz der Begeisterung der Studierenden für dieses Projekt und ihrer Bereitschaft, Abschlussarbeiten in diesem Kontext zu schreiben, kaum möglich war, die Thematik der Altersarmut bei ihnen zu etablieren. Auch von den Expertinnen und Experten wurde dieser Eindruck bestätigt. Während es eine große Sensibilität für Kinderarmut gibt – das Bezeugen auch die entstandenen Abschlussarbeiten –, ist die Zurückhaltung bei Altersarmut umso größer.
Deswegen heißt dieses Kapitel auch „Unsichtbarkeit und Unsichtbarmachung“: Arme Seniorinnen und Senioren sind in unserer Gesellschaft mit ihren Interessen und Bedarfen bisher wenig vertreten. Sie haben definitionsgemäß keine – oder nur in Form einer geringfügigen Beschäftigung – beruflich begründete gesellschaftliche Rolle mehr inne. In diesem Sinne scheinen sie, wie alle Rentnerinnen und Rentner, für die auf Erwerbsarbeit fixierte Gesellschaft erst einmal „unsichtbar“.
Darüber hinaus werden sie jedoch zusätzlich unsichtbar gemacht: Einiges in den Projektergebnissen deutet auf eine mehr oder minder aktive Haltung der (jüngeren) Mehrheitsgesellschaft, sich nicht mit prekären Lebenssituation im Alter beschäftigen zu wollen. Natürlich trifft das nicht pauschal auf alle und alles zu, aber die Tendenz ist feststellbar. Auch Expertinnen und Experten bestätigen diesen Eindruck:
„Und da ist jetzt schon meines Erachtens die Gefahr, dass ältere Menschen unter die Räder kommen, zumal die nicht laut sind. Das ist etwas, was halt auch so spezifisch ist für Ältere. Die gehen nicht demonstrieren oder die gründen keine Initiativen. Die sind nicht laut. Und da liegt, glaube ich, die Herausforderung“ (Sozialbürgermeisterin Dr. Freudenstein, Pos. 7).
Diesen Aspekt der Zurückhaltung und mangelnden Artikulation eigener Interessen erwähnt auch eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung:
„(U)nd es ist einfach oft auch so, dass man, ähm, ja, dass man, wenn man Senior ist, da selber gar nicht mehr irgendwie die Kraft hat, irgendwie da irgendwie laut zu werden und wenn man selber pflegebedürftig ist und pflegebedürftige, und Angehörige hat, die dann einen praktisch unterstützen und pflegen sollen, die sind so am Limit, allein mit der Unterstützung, dass sie meistens für sowas dann auch keine Zeit mehr haben, dass sie sich da noch engagieren“ (SR ASDS, Pos. 1).
Die Unsichtbarkeit und Unsichtbarmachung geht sogar so weit, dass das Seniorenamt der Stadt Regensburg kaum Praktikantinnen und Praktikanten gewinnen kann:
„Wir haben keine Praktikanten oder selten Praktikanten zur sozialen Teilhabe, einfach, weil Senioren nicht interessant sind, die wissen oft einfach gar nicht, was das für eine Bandbreite einfach nochmal beinhaltet und wenn es um irgendwelche Bedarfe in der Stadt geht, geht es immer um Kinder, Jugend und Familie. Aber wie viele Bedarfe bei den Senioren einfach auch vorhanden sind, die werden einfach vergessen“ (SR ASDS, Pos. 1).
Die Expertinnen sind sich einig: „Aber teilweise ist es wirklich. Also, wir haben schon ein paar Leute gesagt, im hohen Alter wird man unsichtbar“. Ihre Kollegin erwidert: „Das wollte ich gerade sagen, gell. Das ist so.“ (SR ASDS, Pos. 1)
Hinzu kommt, dass das medial geprägte Bild des Älter-Seins und -Werdens häufig von den fitten und agilen Best Ager aus Fernsehen und Werbung geprägt ist. Eine Forscherinnengruppe der LMU stellt zum Thema weibliche Altersarmut fest:
„Sie sollen und wollen reisen, sich ehrenamtlich einbringen oder den eigenen Kindern großzügig zur Seite stehen; und sie sollen, so die Forderung der Politik angesichts des demografischen Wandels, auch die belasteten Rentenkassen durch Selbstvorsorge und längere Lebensarbeitszeit entlasten. In solchen Sichtweisen adressieren Journalist*innen im Gleichklang mit renommierten Altersforscher*innen eine bürgerliche, eher gut situierte Klientel und sie spiegeln die Lebensentwürfe, Bedürfnisse, Möglichkeiten und Sorgen dieser ‚jungen Alten‘ als einer relativ neuen Sozialfigur, die als fit und potent imaginiert wird“38.
Abgesehen davon, ob dieses Bild überhaupt auf eine existierende Gruppe zutrifft, vermittelt es auch allen anderen, dass darin die heutige Norm besteht. Menschen messen sich an den gesellschaftlich produzierten Bildern und internalisieren sie zu Normen. Auch bei den Älteren hat man also diese Messlatte der selbstständigen, leistungsbereiten alten Menschen, die sich – in anderer Form als die Jüngeren, aber ebenso produktiv – in die Gesellschaft einbringen und ihr nützen.
Der von Armutsbetroffenen allgemein geschilderte Aspekt der sozialen Scham ist bei Senioren extrem ausgeprägt. Dies bestätigen uns sowohl die Betroffenen als auch die Expertinnen und Experten.
Der Leiter einer caritativen Einrichtung für Seniorinnen und Senioren erläutert:
„Ich, ich denke schon, das sind wir jetzt bei dem Thema, das ist ja eines meiner Hauptthemen, die Scham. Deswegen haben wir jetzt ein bisschen so einen kleineren Kreis in sich kehrend. Es braucht sich niemand mehr da so anstellen wie früher bei uns“ (ZG H, Pos. 9).
Seines Erachtens stellt seine caritative Tätigkeit, die Lebensmittelausgabe, nur einen kleinen Teil der Arbeit dar. Viel wesentlicher sei es, dass die Armutsbetroffenen in einer Gruppe aufgehoben sind, in der man sich kennt und nicht schämen muss. Als Hilfseinrichtung haben sie darauf reagiert, dass das Stigma der Armut für die Betroffenen häufig genauso schlimm ist wie die Armut selbst.
Wofür schämen sich die Menschen? Zunächst: Was für die Armutsbetroffenen allgemein dargestellt wurde, trifft auch für die Seniorinnen und Senioren zu. Die Scham folgt denselben Mustern wie bei allen anderen Betroffenen: An ihnen nagt, dass sie die internalisierten gesellschaftlichen Erwartungen der Selbstständigkeit nicht erfüllen können bzw. – und hierin liegt das Spezifikum – mit Blick auf die Vergangenheit nicht erfüllt haben und deswegen heute auf Hilfe angewiesen sind. Der Blick zurück wird in Teilen negativ besetzt und es gibt keine Möglichkeit mehr dies zu ändern.
Während manche unserer Befragten darauf verweisen, ein Leben lang in schlecht bezahlten oder wechselnden Jobs gearbeitet zu haben, aber die Rente trotzdem nicht reichen würde, sind vor allem Frauen häufig durch die Erziehung von Kindern, Krankheit oder das Pflegen von Angehörigen nicht voll erwerbstätig gewesen und haben deswegen eine geringere Rente.
Betroffen von zu kleinen Renten sind Menschen, die für niedrige Löhne gearbeitet haben (Frau G, Pos. 18, Herr H, Pos. 35). Ein weiterer Faktor, der zu niedrigen Renten führen kann, sind durchbrochene Erwerbsbiografien. Beispielsweise ist die von Herrn I geprägt von Jobwechseln, Phasen der Selbstständigkeit und der Arbeitslosigkeit, wodurch Lücken bei der Renteneizahlung entstanden sind, die nun zu einer zu kleinen Rente führen (Herr I, Pos. 27). Ähnlich geht es auch Herrn Ü, der seine Verärgerung darüber äußert:
Herr Ü: „Aber, dass es dann hinter das Rotz, den ganzen Stunden und Klump und Zeug auf die Rente sich auswirkt, hätt‘ ich das gewusst, hätte ich das nie gemacht. Die ganze Arbeitswechselei oder die stressmäßigen im Kanal oder Tiefbau“.
Weber: „Wenn Sie gewusst hätten, dass Ihre Rente dann so niedrig sein wird“.
Herr Ü: „Ja. Weil ich komme mir so regelrecht abgezockt vor“ (Herr Ü, Pos. 42-44).
Herr Ü hat eine sehr niedrige Rente, obwohl er sein ganzes Leben lang gearbeitet hat und anstrengenden Jobs nachgegangen ist. „Regelrente, was ich habe, komm ich nicht weit. Absolut nicht. Obwohl ich mit 13 Jahren angefangen habe zu arbeiten, einige Berufe erlernt, gelernt habe“ (Herr Ü, Pos. 8).
Neben der früheren Erwerbstätigkeit ist ein weiteres Thema von hoher Relevanz, das fast ausschließlich Frauen betrifft: fehlende Ansprüche durch unbezahlte Care-Arbeit. Ein Teil der Interviews wurde bei einer Einrichtung gemacht, die auf Seniorinnen und Senioren spezialisiert ist; fast alle, die dort Hilfe suchen, sind Frauen. Woran liegt das?
Einerseits scheint dies geschlechtsspezifische Gründe hinsichtlich der Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, zu haben. Ein zusätzlicher Grund ist die deutlich höhere Lebenserwartung von Frauen:
„Also, das ist so, ich hab früher alles gehabt, gell? (…). Dann ist jetzt im Januar mein Partner gestorben. Und jetzt hat sich das finanziell halt alles geändert“ (Frau A, Pos. 35 und 37).
Eine der Ursachen liegt darin, dass die männlichen Partner und Hauptverdiener früher versterben. Die reduzierten Witwenbezüge führen dann zu weiblich geprägter Altersarmut, eine der Schattenseiten der „Gesellschaft des langen Lebens“ und von weiblichen Biografien, die an männliche Ernährer gekoppelt waren.
Ein weiterer Aspekt ist die Übernahme von unbezahlten Care-Arbeiten, die in der Vergangenheit (und auch heute) überwiegende den Frauen überlassen wurden und werden. Auch ehemals Alleinerziehende bekommen wegen reduzierter Arbeitszeiten während ihres Erwerbslebens im Alter Probleme.
Die Auswirkungen dessen schildern uns zahlreiche Seniorinnen. Beispielsweise war Frau B alleinerziehend, hat deswegen immer halbtags gearbeitet und jetzt nur wenig Rente (Frau B, Pos. 7). Ähnlich war es bei Frau R, die ebenfalls Alleinerziehende mit zwei Kindern war (Frau R, Pos. 11). Frau E hat die Pflege ihrer Großmutter davon abgehalten, einer bezahlten Arbeit nachzugehen (Frau E, Pos. 36).
Hier wäre aus unserer Sicht erheblicher Forschungsbedarf nötig: Wie genau interpretieren diese Frauen, die ja notwendige Arbeit für die Gesellschaft geleistet haben, ihre Situation? Nehmen sie die vorherrschende Deutung an, dass die Care-Arbeit weniger wichtig ist, jedenfalls nicht finanziell vergütet werden muss und sie insofern „natürlich“ eine geringere Rente haben? Oder empfinden sie dies als Ungerechtigkeit des Rentensystems?
Frau V hat 30 Jahre lang als Lehrerin gearbeitet. Auf die Frage hin, wie sich ihre Situation entwickelt habe, seit sie in Rente gegangen ist, antwortet sie: „Früher war’s besser“ (Frau V, Pos. 82). In diesem Zusammenhang zitiert sie ihren Sohn: „Arbeite nicht, Mama, du hast deines geschafft“ (Frau V, Pos. 85). Sie sagt, er wünsche sich für sie, dass sie nun zufrieden sein kann, das sei aber nicht der Fall. Auch Frau V leitet daraus jedoch keine politischen Forderungen ab. Bei den meisten scheint die Einstellung vorzuherrschen: „(D)as passt schon, ich krieg das schon hin“ (ZG F, Pos. 61-62).
Es herrscht das Gefühl vor, selbst an der Lage schuld zu sein.39 Wegen der Scham und dem daraus entstehenden Rückzug ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sich die Betroffenen politisch gemeinsam engagieren40: Die mit dem Engagement verbundene Notwendigkeit, dann die eigene Situation der Bedürftigkeit offen legen zu müssen, ist schambesetzt. Zudem fehlen wohl auch ein Gruppengefühl und die Kapazitäten, sich zu organisieren.
Armutsbetroffene Seniorinnen und Senioren leiden daran, ihre Selbstständigkeit in materieller Hinsicht zu verlieren:
„Die versteckte Armut, die auch vorhanden ist. Und das ist sicher eben Schamgefühl. Die Leute haben ihr Leben gearbeitet, waren unabhängig und jetzt brauchen sie jemanden. Da spricht keiner mehr drüber“ (SR ASDS, Pos. 13).
Dieser Verlust der Autonomie beeinträchtigt das Selbstverständnis, wie eine Expertin aus dem Bereich der professionellen Seniorenarbeit schildert:
„Ich denke mir, das andere ist einfach der Aspekt der Scham, dass man einfach überhaupt nicht irgendwie, ja, das irgendwie kundtun möchte. Also das spielt bestimmt eine große Rolle. Man hat sein Leben lang irgendwie geschafft und gemacht und ist irgendwie gut damit zurechtgekommen. Und jetzt würde ich im Alter auf einmal Hilfe brauchen. Das ist, denke ich mir, auch in dem Selbstverständnis der Senioren überhaupt nicht genannt. Und dass man das irgendwie auch wirklich so öffentlich macht. Also ich glaube, das spielt schon eine große Rolle. Dass man wirklich auf Biegen und Brechen versucht, das noch irgendwo hinzukriegen. Und das auf eigene Kosten dann damit“ (SR ASDS, Pos. 8).
Wir möchten kurz einen Aspekt ansprechen, der nur auf den zweiten Blick mit Selbstwirksamkeit zu tun hat. Die Expertinnen aus der Seniorenarbeit bemerken einen zunehmenden Rückgang der Nahversorgung. Das mag nebensächlich erscheinen. Aber sich die Wunschprodukte bei Lebensmitteln (nicht) selbst aussuchen zu können, stellt eine große Einschränkung in der Autonomie dar. Diesen Aspekt erwähnt auch eine betroffene Rentnerin, die aufgrund ihrer Immobilität daheim beliefert wird: „Aber früher natürlich wählen können was wir möchten und jetzt: jetzt nicht mehr, kleine Tüte; Überraschen, was drin; brauche ich oder nicht. aber was nicht dabei ist natürlich Kleinigkeit kaufen hier oder so“ (Frau Z, Pos. 8).
Expertin I: „Die Nahversorgung ist rückläufig. Es gibt keine Nahversorgung mehr für die Leute, keine Geschäfte mehr, selbst die kleinen Geschäfte machen zu. Die müssen teilweise irgendjemanden finden, der sie zum Supermarkt fährt. Oder es wird dann eingekauft, aber dann nimmt man ihnen ja auch die Selbstständigkeit weg, mal selber zu schauen“.
Expertin II: „Dass man die Dinge kaufen kann, die man ja selber möchte, also die bestimmte Marke“.
Expertin II: „Die Nahversorgung ist ein Riesenproblem, weil die zurückschraubt wird. Das sage ich immer, die Digitalisierung darf nicht zu Kosten der Dienstleistung eingeführt werden, beziehungsweise dass man die Dienstleistung einfach wegstreicht. Da sind wir aber momentan auf dem besten Weg“ (SR ASDS, Pos. 48-50).
Auch hier kann von einer Form der Unsichtbarkeit gesprochen werden. Die Infrastrukturentwicklung und die damit geforderten Formen der Mobilität sind nicht auf alte Menschen zugeschnitten. Arme alte Menschen, die sich z.B. kein Taxi leisten können, sind hiervon verstärkt betroffen. Die zunehmende Digitalisierung und die Verlagerung von Angeboten in den virtuellen Raum berücksichtigt alte und insbesondere hochaltrige Menschen gar nicht oder höchst unzureichend. Die Gesellschaft des langen Lebens trifft auf eine Angebotslandschaft, die auf deutlich jüngere Menschen oder maximal auf die Sozialfigur des „Best Agers“ ausgerichtet ist und die Nöte und Bedürfnisse der meisten älteren Menschen ausblendet.
36 BMFSFJ 2025: Neunter Altersbericht. Alt werden in Deutschland – Vielfalt der Potenziale und Ungleichheit der Teilhabechancen (https://www.neunter-altersbericht.de/fileadmin/Redaktion/Bericht_Broschuere_Deckblaetter/neunter-altersbericht-bundestagsdrucksache_final.pdf; Zugriff: 21.01.2025), S.48.
37 Der Paritätische 2024: Kinderarmut sinkt markant, Altersarmut auf dem Vormarsch. Expertise zu den Erstergebnissen des Mikrozensus zur Armutsentwicklung 2023 (https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Fachinfos/doc/broschuere_armutsexpertise-2024-2.pdf; Zugriff: Abrufdatum 04.02.2025).
sowie:
BMFSFJ 2025: Alt werden in Deutschland. Kurzfassung zum Neunten Altersbericht der Bundesregierung (https://www.bmfsfj.de/resource/blob/254068/dec8469d4c81e5152023dc99beb5264e/9-altersbericht-kurzfassung-data.pdf; Zugriff: 04.02.2025).
38 Götz, Irene/Gajek, Esther/Schweiger, Petra 2024: Ruhestand als Ausschluss. Erschwerte gesellschaftliche Teilhabe älterer Frauen und ihr geringer Spielraum für Widerständigkeit. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 120. Jg., 2/2024, S. 13–35, S.14.
39 Ebd., S. 29.
40 Ebd., S. 17.
Auch für das Phänomen der Einsamkeit im Alter gilt, dass der Personenkreis der „Älteren“ höchst heterogen ist und nicht alle davon betroffen sind. Ein ehrenamtlicher Experte unterscheidet „zwischen den Älteren, die durchaus arm oder bedürftig (…) sind, die aber sich noch in der Öffentlichkeit bewegen, und denen, die sich in der Öffentlichkeit nicht mehr bewegen“ (ZG GD, Pos. 62).
Armut jedenfalls stellt einen Risikofaktor für Einsamkeit dar. Sich zuhause „einzukapseln“ und nichts „außer dem Fernseher“ zu kennen, ist hier die große Gefahr: Was kann ich noch tun, was kann ich mir leisten? Denn auch hier gilt natürlich, was für alle Armutsbetroffenen gilt: Die finanzielle Limitierung führt auch ohne psychologische Faktoren bereits zum Rückzug, weil man sich schlicht weniger Teilhabe leisten kann:
„Oder eben auch irgendeinen Kaffee trinken. Oder merkt, dass man es nicht leisten kann, mit Freunden, mich irgendwo zu treffen, weil ich nicht mobil bin und mir keine Taxifahrer leisten kann. Aber dieses Teilhaben an der Gesellschaft, da muss es jetzt gar nicht um Luxusgüter gehen, sondern wirklich um diese soziale Teilhabe. Das ist das, was dann als erstes hinterher fällt“ (SR ASDS, Pos. 45).
Das bestätigt auch eine betroffene Rentnerin, die aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen zunehmend immobil ist:
„Egal, was ich mache, was nicht, sieht ja keiner. Anfang viele Freundinnen gekommen, natürlich möchte ich sehen und jetzt kommt keiner. Einer manchmal, bringt zum Kaffee trinken, mehr nicht, ich bin nirgends“ (Frau A, Pos. 24).
„Ich bin nirgends“, eine auf den ersten Blick lapidare Feststellung, die Isolation und Einsamkeit der Menschen dennoch auf den Punkt bringt.
Ein Experte aus der ehrenamtlichen Seniorenarbeit warnt: „Aber wir dürfen die Älteren nicht vergessen und da geht es gerade um die Vereinsamung. Und wobei, das ist kein einfaches Thema, weil die meisten kommunizieren es nicht, sie schämen sich das zu sagen“ (ZG SRS, Pos. 8). Viele alte und armutsbetroffen Mensch haben damit zu kämpfen, nur über wenige gesellschaftliche Kontakte zu verfügen, was aber ein äußerst schambehaftetes Thema ist.
Daraus ergibt sich der schon beschriebene fatale Zirkel der Scham, des Rückzugs, der Einsamkeit und Isolation. Scham wird hier nicht nur wegen der Armut, sondern auch wegen des Ausschlusses empfunden.
Dabei verbindet sich dieses Phänomen mit einigen altersspezifischen Faktoren, die die Wirkung noch zusätzlich verstärken. Eine Expertin aus der professionellen Seniorenarbeit hierzu:
„Ja, wir haben oft das Problem, dass die Leute verwahrlosen, also dass sie wirklich sich um sich selbst auch nicht mehr kümmern können, also weder ausreichend mit Lebensmitteln versorgen können, weil sie nicht einkaufen können, weil sie zum Beispiel immobil sind. Also das bedingt sich alles gegenseitig. Aber auch keine Angehörigen haben, die das für sie übernehmen können oder in dieser Häufigkeit übernehmen können. Manchmal vielleicht mit einem Nachbarn, der mir alle zwei Wochen was machen kann, weil er selbstberufstätig ist oder eine Tochter oder Sohn, der irgendwann mal kommt und vereinzelt gerade unterstützen kann. Ja, genau.“ (SRS ASDS, Pos. 25).
Diese Beobachtungen bestätigt auch die Einsamkeits-Forschung: Repräsentative Studien zeigen, dass Menschen über 75 Jahren häufiger einsamkeitsbelastet sind. Allerdings gilt das hohe Alter selbst nicht als der Risikofaktor, sondern die Zunahme von Ereignissen, die Einsamkeit auslösen und die wiederum im hohen Alter zunehmen“41. Die Expertise nennt hier unter anderem den „Verlust von Partner*innen, nahen Angehörigen und engen Freund*innen, gesundheitliche Einschränkungen sowie gesellschaftliche Stressoren wie Altersarmut und Altersdiskriminierung“42.
In den Augen einiger Expertinnen und Experten hat das Phänomen der Einsamkeit in den letzten Jahren aufgrund der sich wandelnden Familienstruktur zugenommen:
„Was mir natürlich auffällt, was ich an Anfragen erlebe, ist, dass sich natürlich Familie verändert, dass Kinder oder Verwandte weit weg wohnen. Das ist natürlich das, ich denke, das erlebt jeder. Und dann ist es natürlich noch einmal diese Aufgabe, sich für das Alter oder generell für sein Leben ein soziales Netz aufzubauen“ (SR SenA, Pos. 8).
Es kann nicht mehr automatisch auf eine intakte und auch im nahen Umfeld beheimatete Familie zurückgegriffen werden. Hinzu kommen außerdem noch Wünsche lang im gewohnten Umfeld zu bleiben: Seniorinnen und Senioren wollen inzwischen länger in den eigenen vier Wänden leben, also zuhause gepflegt werden, was jedoch die Kehrseite hat, dass man dort auch allein oder gar einsam ist (Sozialbürgermeisterin Dr. Freudenstein, Pos. 23).
Auch das nachbarschaftliche Umfeld hat sich in der Wahrnehmung vieler in den letzten Jahren dahingehend geändert, dass es immer seltener unterstützend wirkt:
„Genau, ja, also das ist ja oft schonmal das, dass die Leute dann zu uns kommen. Wenn wir da irgendeinen Zugriff haben, können wir ja anbieten, zu unterstützen. Aber wenn da ja niemand irgendwie Zugriff hat, weil der Nachbar nicht weiß, was nebenan passiert, weil eben keine Angehörigen da sind, dann kommt man nicht raus aus dieser Situation“ (SR ASDS, Pos. 27).
Führen Veränderungen in den Familienstrukturen also zu mehr Einsamkeit im Alter? Eine Studie aus dem Jahr 1996 zeigte, dass damals nur bei 20 % aller Familien ein Kind weiter als eine Fahrtstunde entfernt lebt; bei fast 50 % aller Familien lebt mindestens ein Kind sogar im selben Ort wie die Eltern. Je höher das Bildungsniveau, desto weiter entfernt lebten die Kinder.43 Eine Studie aus dem Jahr 2013 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.
Eine ländervergleichende repräsentative Studie von 2013 weist darauf hin, dass aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung im Allgemeinen Kinder immer mehr Zeit mit ihren Eltern und Großeltern verbringen (können).44 Tatsächlich wird dieser Punkt bei einer Idealisierung der früheren Familienverhältnisse häufig übersehen: Allein wegen der geringeren Lebenserwartung war ein langes Zusammenleben und sich Wechselseitig-Unterstützen sehr häufig nicht möglich.
Quantitativ zeigt sich, dass in Deutschland über 40 % der Kinder als Erwachsene maximal 5 Kilometer von ihren Eltern entfernt wohnen; nur gut 20 % leben mehr als 500 Kilometer entfernt oder im Ausland.45 Als Determinanten wird unter anderem das Alter genannt: Je größer die altersmäßige Distanz zwischen den Generationen, desto größer die räumliche Distanz – ein Befund, der auch zu den Ergebnissen der Einsamkeits-Forschung passt.46
Insgesamt zeigt sich, dass manche Familien zwar sehr zerstreut leben, in den allermeisten Fällen die Distanzen aber häufig nach wie vor gering sind.
Dies ändert aber nichts an den Befunden unserer ehrenamtlichen und professionellen Expertinnen und Experten: Familienmitglieder kümmern sich nach ihrer Erfahrung seltener umeinander. Der geringere Kontakt und die nur verhaltene Unterstützung für die ältere Generation scheint aber nicht primär an der räumlichen Distanz zu liegen, sondern andere Ursachen zu haben. Welche dies genau sind, müssen zukünftige Forschungsarbeiten herausfinden.
Ein uneindeutiges Bild ergibt sich in Bezug auf die Familienstruktur der migrantischen Communities. In diesem Fall sind die Einschätzungen der Expertinnen und Experten höchst konträr – zumal es die migrantische Community selbstredend nicht gibt und nach Herkunfts-Nationalität und faktischer (Nicht-)Eingebundenheit unterschieden werden müsste. Dennoch soll hier kurz auf die unterschiedlichen bis gegensätzlichen Einschätzungen eingegangen werden.
Von türkischstämmigen und russlanddeutsch-stämmigen Expertinnen und Experten wurde von starken familiären Netzwerken berichtet, was dazu führt, dass Einsamkeit für die wenigsten ein Problem darstellt:
„Also ich kenne ganz viele, wo die Kinder halt einfach aushelfen. Ich habe jetzt auch nicht so viele Türkischstämmige gesehen bei der Tafel, ehrlich gesagt. Da ist es ja mit der Familienstruktur ähnlich, dass die Kinder einfach aufkommen für die Eltern. Und bei der Ukraine ist es übrigens nicht anders“ (ZG SRI1, Pos. 41).
Eine Expertin spricht von selbstorganisierter, institutionalisierter Hilfe in den Communities (ZG SRI1, Pos. 20, 37). Dass Menschen mit russischen oder türkischem Migrationshintergrund Unterstützungsangebote kaum wahrnehmen, bestätigen auch Ehrenamtliche (ZG F, Pos. 57; SR ASDS, Pos. 108; FK SB1, Pos. 109).
Ob jedoch daraus geschlossen werden kann, dass die familiäre Hilfe gut funktioniert oder andere – analog zu den anderen Armutsbetroffenen – Gründe für die Nichtinanspruchnahme vorliegen, ist mehr als fraglich. Denn einige berichten davon, dass es einen Mythos darstellt, sich eine (immer noch?) funktionierende Großfamilie vorzustellen, in der Alt und Jung aufgefangen werden (ZG P, Pos. 18). Häufig fehlt diese Einbindung völlig:
„Natürlich, die Einsamkeit, das sind diejenigen, die überhaupt keine Kinder haben, wenn sie jetzt 70 Jahre alt sind und sie haben nie geheiratet oder sie haben keine Kinder […] bei uns ist es ganz selten, wenn du jetzt nie geheiratet hast, genau, dann ist es blöd. Oder wenn du nur ein Kind hast, der ist halt nicht so familienverbunden, dann hast du auch Pech“ (ZG P, Pos. 42).
Gerade weil die Familien anscheinend einen so wesentlichen Bezugspunkt darstellen und die Anbindung an die Mehrheitsgesellschaft bei manchen älteren Migrantinnen und Migranten schwächer ausgeprägt ist, ist die Einsamkeit in diesem Fall wohl umso größer.
Aufgrund dieser unklaren Befunde haben wir uns um Interviews mit sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern der ersten Generation bemüht, konnten jedoch nur mit zwei Personen ausführlich sprechen. Beide waren äußerst skeptisch gegenüber der angeblichen familiären Einbindung. Die wenigen empirischen Studien deuten jedenfalls darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund faktisch viel häufiger von Einsamkeit betroffen sind.47
Angesichts der genannten Zahlen und Eindrücke zur Verbindung von Armut, Alter und Migrationshintergrund müsste diese Thematik unseres Erachtens viel stärker in den Blick genommen werden: Weswegen werden ehrenamtliche, aber auch professionelle Unterstützungsangebote viel seltener von dieser Personengruppe wahrgenommen? Gibt es aufgrund der familiären Einbettung tatsächlich weniger Bedarf oder handelt es sich hier um einen Mythos und liegt es vielmehr in der Scham und dem deutschsprachigen Hilfsangebot begründet? Unser Material zeigt lediglich die Fragen auf, denen sich ein weiteres Forschungsprojekt widmen müsste.
„Ja, ich meine, es ist ja nicht immer so, dass sich der, der isoliert lebt, einsam ist. Das sind ja diese subjektiven Gefühle. Aber die, die isoliert leben und sich einsam fühlen, die würden wir halt schon gerne erreichen“ (SR SE, Pos. 67), so eine Expertin in einer städtischen Leitungsfunktion. Damit spricht sie einen wichtigen Punkt an, der auch bei sämtlichen anderen Interviews mit Expertinnen und Experten Erwähnung findet: Gerade diejenigen, bei denen der fatale Kreislauf von Armut, Scham, Rückzug und Einsamkeit in Kraft gesetzt wurde, lassen sich von ehrenamtlichen und professionellen Angeboten kaum erreichen.
Unter anderem bestätigt das ein Mitarbeiter einer Lebensmittelausgabe: „Und die Altersarmut, sag ich jetzt immer, das ist ja eine Kettenreaktion. Die fangen ja, die Armut ist ja, ist ja quasi auch die Einsamkeit. Und dann hast du auch Menschen, wie gesagt, die wo nicht zu uns kommen“ (ZG H, Pos. 13). Ein Experte aus dem Ehrenamt bestätigt:
„(D)as machen auch nicht alle gern, dass sie zur Tafel gehen und sich dann mit Lebensmitteln versorgen. An dem Moment, dann wird man im ersten Schritt, was dann Altersarmut ist, nehmen. […] Letztendlich glaube ich auch, dass sich diese Leute, die jetzt wirklich wenig haben, dass die sich gar nicht outen. Dass man das gar nicht so mitkriegt. Man kriegt das nicht so mit“ (ZG GD, Pos. 4-5).
Außerdem sorgt Einsamkeit für geringere Aussichten, finanzielle Hilfe in Anspruch zu nehmen zu können, da am Anfang keine unterstützenden Strukturen bei (komplizierten) Antragsstellungen vorhanden sind:
„Wenn man alleine ist, […] hat man weniger Möglichkeiten, sich überhaupt die Unterstützung zu holen, die man bräuchte, also gerade jetzt in finanzieller Hinsicht, dass ich jetzt sage, ok, ich brauche eine Kopie von dem, um den Antrag überhaupt zu stellen für zum Beispiel Grundsicherung. Ich weiß gar nicht, was ich alles brauche, ich weiß nicht, welche Ansprüche ich habe und ich weiß nicht, an wen ich mich wenden kann, der mir da hilft. Ich habe keine Angehörigen, die da für mich nachfragen können und ich selber bin auch nicht dazu in der Lage“ (SR ASDS, Pos. 23).
Dem Eindruck unserer Expertinnen und Experten nach tritt die scham- und einsamkeitsbedingte Nichtinanspruchnahme von Unterstützung vermehrt bei alten Menschen auf:
„Weil man glaube ich immer noch sagen kann, ältere Leute haben noch mehr Scheu überhaupt zu uns ankommen. Ja, also da gibt es bestimmt wesentlich mehr Betroffene, die sich aber dann irgendwie durchwurschteln, keine Ahnung, wollen nicht, also machen den Deckel drauf, keiner soll was wissen. Das ist mein Glaube. Da haben wir jetzt natürlich auch keine Zahlen dazu“ (FK SB1, Pos. 24).
Niemand weiß, wie viele Personen Anspruch hätten oder auch private Hilfe benötigen, aber freiwillig darauf verzichten. Die Aufklärung des Dunkelfeldes wäre eine wichtige Aufgabe für die Zukunft, auch wenn dies nur sehr schwer umzusetzen ist.
41 Schobin, Janosch/Arriagada, Céline/Gibson-Kunze, Martin/Wilke, Yvonne 2023: Einsamkeitsbarometer. Pilotbericht. Kompetenznetz Einsamkeit/ISS e.V. (KNE Forschung 01/2023) (www.kompetenznetz-einsamkeit.de/publikationen; Zugriff: 25.12.2024), S.11.
42 Ebd., S. 11.
43 Lauterbach, Wolfgang/Pillemer, Karl 1996: Familien in späten Lebensphasen: Zerrissene Familienbande durch räumliche Trennung? Arbeitspapiere / Universität Konstanz, Sozialwissenschaftliche Fakultät, Forschungsschwerpunkt „Gesellschaft und Familie“; Nr. 23, (https://kops.uni-konstanz.de/server/api/core/bitstreams/505d17e4-039d-4626-a06a-ae695f813533/content; Zugriff: 25.12.2024), S.19ff.
44 Isengard, Bettina 2013: „Der Apfel lebt nicht weit vom Stamm“: Wohnentfernungen zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern in Europa. In: Comparative Population Studies – Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Jg. 38, 2/2013, S. 263-290, S. 263.
45 Ebd., S. 276f.
46 Ebd., S. 280.
47 Velimsky, Jan A. 2024: Soziale Isolation und Einsamkeit armutsgefährdeter Menschen in Baden-Württemberg. Stuttgart (https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Downloads_Familie/GesellschaftsReport-BW_1-2024.pdf; Zugriff: 01.01.2025), S. 7.
Natürlich existiert nicht das eine Bild von Armut in unserer Gesellschaft, sondern es bestehen zahlreiche unterschiedliche Konstruktionen. Tatsächlich gibt es jedoch einige Konstanten, die sowohl in den Interviews erwähnt als auch aus entsprechenden bundesweiten Forschungen belegbar sind. Diese Konstanten oder Narrative sollen im Folgenden kurz beschrieben werden.
Ein erstes zentrales Narrative ist nach unserer Beobachtung: „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Im Falle des Scheiterns ist man zwar auf Hilfe angewiesen, möchte dem Staat oder seinen Mitbürgerinnen und -bürgern aber nicht „auf der Tasche liegen“, weil dies eine Art doppeltes Versagen darstellen würde: Man hat es nicht geschafft, erbringt also keine Leistung, und kostet „auch noch“. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Zuschreibungen aus Sicht der Betroffenen oder der anderen Gesellschaftsmitglieder vorgenommen werden.
Ein Mann berichtet von den gesellschaftlichen Stereotypen, die ihn belasten: „in der Gesellschaft natürlich diese Vorurteile, ja, alles bezahlt und, und, die leben ja nur auf die Kosten“ (Herr O, Pos. 24). Auch eine Expertin aus der Schuldnerberatung nimmt dies wahr: „Das eigene Scheitern jeden Tag vor Augen. Und wo jeder Außenstehende sagen würde, das kann ja gar nicht so gehen. Wie soll denn das gehen? Aber das schafft die Person. Weil alles so drückt. Die Erwartungen“ (FK SB2, Pos. 141). Zu der an sich schon finanziell belastenden Situation kommt also noch der Druck hinzu, eigentlich den Erwartungen als Teil dieser Leistungsgesellschaft entsprechen zu wollen.
„Man fühlt sich, ganz flapsig gesagt, nutzlos, wertlos, man ist nicht mehr Teil eines produktiven Systems…dieses erzwungene Zuhause sitzen müssen, auch ein bisschen ist das dann auch ein ins Klischee reinfallen, du hast nichts zu tun, du sitzt zu Hause vor dem Fernseher oder du hockst irgendwo im Park, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt“ (ZG K, Pos. 26).
Ein Betroffener, der selbst auch im Ehrenamt tätig ist, mustert sein eigenes Verhalten danach, ob es dem Klischee des Armutsbetroffenen entspricht und fürchtet, aufgrund der erzwungenen materiellen Einschränkungen zunehmend in dieses zu fallen:
„(I)ch tu mich halt schon schwer, wenn ich jetzt irgendwie so im sozialen Verhalten, natürlich im Kindergarten oder irgendwo, was ist, natürlich, dass ich auch immer dadurch die Arbeit, Arbeitenden, oder auch Nachbarn, die wo arbeiten, und sehe natürlich, hey, die wohnen da, die kriegen das dann natürlich bezahlt oder sowas, ich weiß, dass die Menschen natürlich darüber reden, natürlich“ (Herr O, Pos. 24).
Der Interviewte ist ein ehemaliger Obdachloser und Drogenabhängiger, der nun eine Familie hat und als Minijobber aufstocken muss. Er weiß – oder denkt zu wissen -, dass seinem Umfeld die staatlichen Zahlungen bekannt sind, und seiner Wahrnehmung nach wird im Kindergarten und bei den Nachbarn getuschelt. Die dadurch ausgelöste Scham belastet ihn massiv, weil er den Anspruch an sich hat, selbstständig für seine Familie sorgen zu können.
Frau Ä wiederum beklagt sich darüber, dass alle Armen in eine Schublade gesteckt werden und diese Bild der Leistungsverweigerung durch TV-Sendungen noch gefördert wird.
Igloffstein: „Solche Aussagen, dass das Bürgergeld zu hoch sei? Oder wie meinen Sie?“
Frau Ä: „Generell, dass man das in so eine Schiene einschiebt, dass alle Hartz-IV-Empfänger nicht arbeitswillig sind. Das sind dann die Sendungen im Fernsehen. Das ist ein bestimmtes Klientel, sag ich jetzt mal, und das ist halt das, was die Leute eigentlich mitkriegen“ (Frau Ä, Pos. 123-125).
Die verweigerte Anerkennung kann unterschiedliche Formen annehmen. Obwohl wir in den Interviews nicht explizit danach gefragt haben, wurde immer wieder von Diskriminierungserfahrungen berichtet. Armut im Allgemeinen scheint von vielen als Stigma wahrgenommen zu werden, sodass von (vermeintlich) schiefen Blicken bis hin zu aktiver Diskriminierung insbesondere im „normalen Alltag“ viele Vorfälle am Selbstwert der Betroffenen nagen. Wenn Arme in der Gesellschaft mit negativen Bildern und Narrativen belegt werden, manifestiert sich diese im Alltag und auch im Kontakt mit Behörden – von subtiler versagter Anerkennung bis hin zu handfester Diskriminierung.
Auch die Expertinnen und Experten weisen in den Interviews immer wieder auf die Stigmatisierung Armutsbetroffener insbesondere durch die „Normalbevölkerung“ hin. Dabei scheinen bestimmte Gruppen besonders betroffen zu sein. Wir möchten an dieser Stelle einige Beispiel zeigen.
Wichtig ist dabei vorab jedoch zu betonen, dass es sich hier um von den Betroffenen geschilderte Fälle handelt, die im Einzelnen nicht zu überprüfen sind. Insofern soll keineswegs eine pauschale Beschuldigung hinsichtlich einer fehlenden Armutssensibilität der Allgemeinbevölkerung oder einzelner Behörden ausgesprochen werden.
„Ich bin auch sehr viel in der Anti-Stigma-Arbeit betreffend psychische Erkrankungen tätig. Und für mich ist mittlerweile auch die Armut das größere Stigma als die Krankheit“ (ZG K, Pos. 26), so ein Betroffener, der auch als Ehrenamtlicher tätig ist.
Verbreitet ist ein allgemeines Gefühl des Geächtet-Werdens: „Aber, ja, ich hab mich schon öfters mal schikaniert gefühlt“ (Herr Ö, Pos. 54), so ein Beteiligter. Frau Ä denkt, dass sie wegen ihrer Kleidung auffällt: „Aber es ist dann schon so, es gibt auch viele Leute, die gut situiert sind. Und da wirst dann schon schräg angeschaut, von der Kleidung her oft schon“ (Frau Ä, Pos. 133). Dabei lässt sich nicht überprüfen, ob das Geächtet- bzw. Schief-Angeschaut-Werden tatsächlich oder nur in den Köpfen der Betroffenen passiert.
Häufig scheinen Arme auch auf Basis einer sichtbaren Beeinträchtigung oder eines Stigmas wie Übergewichtig-Sein diskriminiert zu werden. So berichtet eine gehbehinderte Person in Bezug auf den öffentlichen Nahverkehr: „Ich habe zweimal schon Beschwerden erhebt, weil mich der Busfahrer, obwohl er das Zeichen gesehen hat, hat er mich nicht mitgenommen. Und dann habe ich beim Chef beschwert und da läuft die Beschwerde nach. Er prüft jetzt alles noch nach“ (Frau E, Pos. 132). Und auch anderweitig im öffentlichen Raum kommt es zu ähnlichen Vorfällen: „Bei meiner Nachbarin ist es ja noch schlimmer. Die wär die richtige Ansprechpartnerin gewesen, weil die wird gescheit diskriminiert, fertig gemacht. Sie ist dick, soll abnehmen, durch ihre Tabletten, nimmt aber leider zu und kann nicht mehr gehen“ (Frau E, Pos. 148).
Die Betonung der Unterschiede zwischen den Menschen ist ein Motiv, das den Befragten besonders wichtig erscheint. Die Betroffenen wehren sich gegen ungerechtfertigte Pauschalisierungen:
„Du kriegst, du fühlst dich halt auch mal, wenn du mal obdachlos bist, tust dich halt so schwer, weil [unverständlich], weil die halt keine Chance geben. Weil die Leute denken auch, du kannst nicht einfach obdachlos werden, sondern du musst Alkoholiker sein, sag ich jetzt mal, oder so drogensüchtig sein, so du bist auf der Straße, ne? Ich meine, ich kenn viele, die auf der Straße sind und keine Drogen nehmen oder auch keine Alkoholiker sind, ne? Und trotzdem keine Wohnung kriegen, ne? Weil es wird halt einfach immer über einen Kamm geschert, ne?“ (Herr J, Pos. 40)
Es herrschen der Wahrnehmung dieses Obdachlosen nach sehr viele Vorurteile in der Gesellschaft vor, die allen auf der Straße Lebenden gelten.
„Das ist halt in der Gesellschaft bei uns, ich glaube, das ist nicht nur in Regensburg so. Dass du halt einfach ob du obdachlos bist, oder drogensüchtig bist, wirst halt einfach geächtet, so wie wir es in der Gesellschaft haben. Das wäre halt schön, wenn das nicht so wäre. Weil man halt auch sagt, es gibt ja immer einen Grund, warum jemand so geworden ist. Und dass man einfach, man muss nicht jedes Mal den Grund hinterfragen, aber wenn man alle über einen Kamm schert, das ist das, was mich so stört. Du bist jetzt der Drogensüchtige, du bist der Obdachlose“ (Herr J, Pos. 104).
Anstatt zu pauschalisieren, wäre es aus seiner Sicht wünschenswert, sich für die individuellen Lebensumstände einer Person zu interessieren. Tatsächlich wurden Erfahrungen der Stigmatisierung und Diskriminierung vor allem von Obdachlosen angesprochen. So führt auch Herr Ö aus:
Herr Ö: „Ja, um den Hals gefallen ist mir jetzt noch keiner“
Weber: „Und das andere Extrem?“
Herr Ö: „Ja, schon. Du stinkst oder sowas, aber ich gebe da gerne aus. Also ohne tatkräftig zu sein, also die Sprüche halt ich schon aus, mit denen werde ich fertig. Die sind so weit unten“ (Herr Ö, Pos. 60-62).
Herr Ö hat offenbar schon sehr viele negative Erfahrungen mit anderen Personen gemacht und verweist seinerseits darauf, dass diese durch ihr Verhalten selbst „weit unten“ seien.
Obdachlose haben nicht nur Probleme mit Passanten, sondern manche fühlen sich auch von einigen Behörden und der Polizei schlecht behandelt:
„Ich werde oft von der Polizei kontrolliert, nur weil ich aussehe, wie ich aussehe. Dieses aggressive, rebellische Verhalten. Hey, was ist los mit euch? Wo bin ich aggressiv? Ich sehe aus wie ein Drogendealer. Ein Krimineller. Ich denke, das ist meine erste Strafe. Ich mache Sozialstunden, bin Anfang dreißig und habe das erste Mal Ärger bekommen. Ich bin kein Krimineller. Ja, ich bin abhängig. Aber ich habe noch meine Hirnsynapsen. Die sind alle noch ein bisschen vorhanden“ (Herr Y, Pos. 78), so ein junger, drogenabhängiger Obdachloser.
Wie schon ausgeführt, lassen sich diese Erfahrungen weder bestätigen noch widerlegen und keinesfalls sollen hier Generalisierungen vorgenommen werden. Einzelne negative Ergebnisse gibt es sicherlich, aber die jeweilige Situation und das wechselseitige Verhalten der Beteiligten kann und soll hier nicht beurteilt werden.
Grundsätzlich berichten auch mehrere caritative Einrichtungen davon, die Ächtung zu bemerken, die Armutsbetroffene erleben. So berichtet eine Leiterin:
Expertin: „Ich habe auch immer wieder das Problem, wenn ich Interviews gebe, dass gefilmt werden will oder draußen fotografiert werden. Also mittlerweile verteidige ich die Menschen da draußen wie eine Löwin, weil ich immer sage, das sind keine Affen im Zoo“.
Schildbach: „Aber machen die das ohne Genehmigung?“
Expertin: „Nein, mittlerweile nicht mehr, weil es von mir so ein Respekt hat. Aber das haben wir auch erarbeiten und erkämpfen müssen. Die trauen sich nicht mehr“ (ZG T, Pos. 34).
Mangelnde Sensibilität stellt ein großes Problem dar. Selbst wenn Medien in der Absicht berichten, das Thema nicht aus stigmatisierender Perspektive aufzunehmen, kann es passieren, dass sich die Betroffenen wie „Affen im Zoo“ vorkommen. Ähnliche Erfahrungen musste auch eine andere Leiterin machen:
„(A)lso sie brauchen bloß die Passanten einmal anschauen, die hier vorbeigehen, wenn hier Ausgabe ist, wie die hier die Leute anschauen. Herabschauen. Diese Ignoranz nach dem Motto, sowas könnte mir nie passieren, oder wie konntet ihr nur so weit kommen. Und das sagte ich ja vorhin, das ist dieses Abschätzige oder das Nichtverstehen, das kommt immer nur von Leuten, die noch nie Not leiden mussten, noch nie Probleme hatten, noch nie krank waren“ (ZG FS, Pos. 115).
Wenig überraschend haben nicht nur die Armen, sondern auch diejenigen, die sich um sie kümmern, mit Problemen der Anerkennung zu kämpfen. Hinsichtlich des Immobilienmarktes berichtet eine Person in einer ehrenamtlichen Leitungsposition:
„Wir sind ja schon immer in einem Gewerbegebiet, weil uns will ja auch keiner. Wir haben ja auch dieses furchtbare, ungedämmte Gebäude einfach anpachten müssen, weil wir nichts anderes bekommen haben“ (ZG T, Pos. 36).
Tatsächlich geht die Skepsis bis Ablehnung des sozialen Engagements sogar so weit, dass Engagierte in ihrem privaten Umfeld auf Unverständnis bis Ablehnung stoßen:
„Und oft wurde ich gefragt, was machst du so? Und dann habe ich ihr erzählt, glauben Sie, dass irgendeiner davon gesagt hat, oh tolle Sache, da komme ich und helfe dir? Nicht einer von Hunderten, Nase rümpfen, Augenbrauen hochziehen“ (ZG FS, Pos. 118). Und ihre Kollegin ergänzt: „Verständnislos einfach, wie kann man so etwas machen? So etwas nutzloses, so etwas, das ich mit dem Dreck abgeben würde, Abschaum der Gesellschaft.“ (ZG FS, Pos. 118).
Durch die Befragungen der Expertinnen und Experten sowie der Betroffenen wurde mehr als deutlich, welchen Diskriminierungserfahrungen arme Menschen ausgesetzt sind. Insofern müsste es aufgegriffen werden, um den psychologischen Implikationen der Armut entgegenzuwirken. Zugleich stellt sich dies jedoch als enorm schwierig heraus, da es sich um in der Gesellschaft tief verwurzelte Armutsbilder handelt, die nicht einfach geändert werden können. Im Kapitel zu den Handlungsempfehlungen wird dieses Feld aufgegriffen werden.
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